Corinna Felsch: Reisen in die Vergangenheit? Westdeutsche Fahrten nach Polen 1970-1990 (= Studien zur Internationalen Geschichte; Bd. 38), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2015, X + 397 S., ISBN 978-3-11-042510-9, EUR 59,95
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Grenzen überschreiten - in jeder Hinsicht -, Raum haben, das bedeutet Reisen. Es ist ein vielschichtiges Thema, dessen sich Corinna Felsch in ihrer Dissertation annimmt, ein Thema, das sich seit einigen Jahren zunehmender Aufmerksamkeit erfreut. Das Konzept von Erinnerung und Gedächtnis, das mit seinem Grundgerüst von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft idealtypisch das Reisen umschließt, blitzt schon im Haupttitel mit einem Fragezeichen versehen auf: "Reisen in die Vergangenheit?" In die Erinnerungskultur jener beiden Jahrzehnte, die den Untersuchungszeitraum der Dissertation bilden, sind mehrfache Paradigmenwechsel eingeschrieben. Es war eine Zeit, als sich zwei parallele Opferdiskurse herausbildeten, die fortan das kulturelle Gedächtnis und die geschichtspolitischen Debatten prägten, wenngleich mit unterschiedlichen Konjunkturen. Die deutschen Opfer von Flucht und Vertreibung verloren mit dem Ende der 1960er Jahre zunehmend an Aufmerksamkeit, ins Zentrum rückten die Opfer der Deutschen - die Juden, die Sinti und Roma, die Homosexuellen. Die Erinnerung erhielt 1985 mit der oft zitierten Rede Richard von Weizsäckers zum 40. Jahrestag des Kriegsendes eine neue Weichenstellung - Befreiung statt Niederlage -, bevor am Ende des Kalten Kriegs die Opfer von Flucht und Vertreibung vom Rand wieder in die Mitte der Debatten katapultiert wurden.
Corinna Felschs fast 400 Seiten umfassende Studie ist klassisch aufgebaut und führt den Leser über die Fragestellung, die Quellen und den Forschungsstand zur Methodik und Terminologie. Zwei Begriffe werden für die Analyse der Reiseberichte favorisiert: Geschichtsbilder und historische Repräsentationen. Termini des aktuellen wissenschaftlichen Diskurses zum Thema wie Generation, kollektives und kommunikatives Gedächtnis oder Transnationalität finden hingegen entweder nur ganz am Rande oder überhaupt keine Erwähnung.
Die Autorin untersucht drei verschiedene Kategorien von Reisen nach Polen, nämlich die in Verbindung mit Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste, die Heimatreisen der vertriebenen deutschen Bewohner aus nun zu Polen gehörenden Gebieten östlich der Oder/Neiße-Linie sowie Studienreisen. Diese Konzeption knüpft an neueste Arbeiten zum Thema Flucht und Vertreibung an, in denen beide Opferdiskurse unter einem Dach bearbeitet werden. [1] Denn Aktion Sühnezeichen widmet sich der Aufarbeitung deutscher Schuld und ist damit auf den Nationalsozialismus und die Verbrechen der Deutschen in Polen fokussiert, wohingegen die ausgewiesenen, evakuierten und geflohenen Deutschen mit dem Überschreiten der Grenze nach Polen eine innere Barriere überwinden mussten, die vor allem der Bewältigung der eigenen Verlustgeschichte diente. Für solche Reisen in die alte Heimat trifft das Schlagwort "Heimwehtourismus". Die Studienreisen hingegen können am ehesten als Reisen mit touristischem Hintergrund betrachtet werden.
Corinna Felsch wertet in erster Linie Reiseberichte aus, die meisten davon waren als verpflichtende Vorgabe von Aktion Sühnezeichen oder aufgrund gewährleisteter Zuschüsse abgefasst worden. Die Impressionen derer, die in die alte Heimat reisten, fanden teilweise in Heimatblättern der organisierten Vertriebenen einen Platz und wurden aus eigenem Antrieb geschrieben. Es ist ein höchst disparates und fragmentarisches Quellenpaket, an das sich Felsch herantraut. Aber gerade hier liegt die große Chance, nämlich transnationales Erinnern, die Konjunkturen der Opferdiskurse in der Bundesrepublik mit dem aktiven Prozess des Reisens, dem Perspektivwechsel der Vergangenheitsdeutung zusammenzubringen.
Um es vorwegzunehmen - dieses Spektrum an Möglichkeiten hat Felsch nur eingeschränkt genutzt. Drei Problemzonen sind erkennbar: die Fragestellung, die dem vorliegenden Material ein zu enges Korsett anlegt, die fehlende methodische Präzisierung, das eingeschränkte begriffliche Instrumentarium und - damit einhergehend - die Vermeidung aktueller analytischer Kategorien, die die Anbindung an den wissenschaftlichen Diskurs ermöglichen würden. Felsch hantiert mit den Termini "Geschichtsbild" und "historische Repräsentation" - Anachronismen, die an das Vokabular der Jahrtausendwende anschließen. [2] Zwar enthalten Geschichtsbilder Formen der Identitätsstiftung über Generationen hinweg und verknüpfen die Deutung der Vergangenheit mit Gegenwart und Zukunft. Felsch arbeitet somit durchaus mit dem Erinnerungs- und Gedächtniskonzept in Kombination mit den Kategorien Generation und Zukunft, nennt das Kind aber nicht beim Namen. Generationenkonflikte werden implizit angesprochen, aber als Analysekategorie nicht benannt. Das Fehlen des Begriffs der Transnationalität ist in diesem Themenfeld eine unverständliche Leerstelle.
Zweifellos ist es für einen Historiker legitim, spezielle Fragen an seine Quellen zu stellen. Hier ist es jedoch eher hinderlich, weil das Material Antworten auf die durchgehend gestellte Frage nach den Auswirkungen der Konfrontation der Reisenden mit polnischen Geschichtsbildern - die zudem an keiner Stelle näher ausgeführt werden - weitgehend schuldig bleibt. Die Reiseberichte geben an verschiedenen Stellen Auskunft über persönliche Begegnungen, nicht aber über eine Auseinandersetzung mit polnischen Vergangenheitsnarrativen. Die Idee, bei den ASF-Reisenden "Situationen der Krise" (130), also einen Zusammenprall verschiedener kultureller Gedächtnisse, auszumachen, zündet nicht. So bleibt als Fazit des besagten Kapitels, dass polnische Geschichtsbilder überhaupt nicht wahrgenommen wurden. Intensiviert - so das Analyseergebnis - wurde hingegen das Gefühl bei den Reisenden, Mitglieder des "Tätervolks" würden auf Angehörige des "Opfervolks" treffen. Interessant ist allemal auch die Harmonisierung und "Glättung" deutscher und polnischer Erinnerung an Flucht und Vertreibung im Zuge persönlicher Zusammentreffen.
Die Darstellung speist sich meist aus Paraphrasierungen von Zitaten. Viel zu selten blendet die Autorin auf die Metaebene der Abstraktion um. Sparsam zeigt sie, dass sie kontextualisieren und verorten kann und dass ihr wichtige Texte geläufig sind. Sehr gelungen ist dies in ihrer Darstellung des politischen Engagements der ASF-Reisenden. Hier verknüpft sie die Texte von Aleida Assmann zum kulturellen und kommunikativen Gedächtnis über Auschwitz und geschichtspolitische Prägungen der Reisenden mit den in Polen gemachten neuen Erfahrungen.
Die fehlende methodische Präzisierung und das gleichzeitige Streben nach Objektivierung versucht Felsch mit Prozentangaben auszugleichen. Die Aussagekraft hält sich in Grenzen, weil konkrete Bezugspunkte fehlen und es sich weder um eine quantitative Studie mit repräsentativem Charakter noch um einen qualitativen Ansatz handelt. Felsch betrachtet die Reiseberichte nicht wirklich als eigenständige Narrative. Als Folge zieht sich die Redewendung "es scheint" durch die gesamte Studie. Die Autorin entwertet dadurch ihre eigenen Ergebnisse, macht sie vager als sie sind. Tendenziös wirkende Überschriften wie "Polnische Geschichtsfälschungen?" (Kapitel 3.3) geben eher das Bild einer Rohfassung als einer durchdachten Forschungsarbeit ab.
Ihre Stärken entfaltet die Arbeit, wenn die Autorin die Schiene des "Durchexerzierens" der eng gesteckten Fragestellung nach Konfrontationen verschiedener Geschichtsbilder verlässt und anhand von Zitaten zeigt, wie sich Erinnerung, Vergangenheit und Gegenwart auf den Reisen kreuzen, ja zu welchen Widersprüchen persönliche Erfahrungen und institutionalisierte Erinnerung - gerade bei den Vertriebenen - führten. Die Verbindung der bisher parallel geführten Opferdiskurse, das Aufdecken ihrer Zusammenhänge schließen die Dissertation letztlich trotz erkennbarer Unzulänglichkeiten an den aktuellen Forschungsdiskurs an.
Anmerkungen:
[1] Vgl. u.a. Stephan Scholz / Maren Röger / Bill Niven (Hgg.): Die Erinnerung an Flucht und Vertreibung. Ein Handbuch der Medien und Praktiken, Paderborn u.a. 2015.
[2] Vgl. z.B. die ausgezeichnete Arbeit von Sabine R. Arnold: Stalingrad im sowjetischen Gedächtnis. Kriegserinnerung und Geschichtsbild im totalitären Staat, Bochum 1998.
Susanne Greiter