Gernot Briesewitz: Raum und Nation in der polnischen Westforschung 1918-1948. Wissenschaftsdiskurse, Raumdeutungen und geopolitische Visionen im Kontext der deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte (= Einzelveröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Warschau; 32), Osnabrück: fibre Verlag 2014, 526 S., ISBN 978-3-944870-03-8, EUR 39,80
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Die von Gernot Briesewitz vorgelegte Monografie ist wichtig - nicht nur deshalb, weil sie mit der polnischen Westforschung und den mental maps zwei Felder der neueren historisch-sozialwissenschaftlichen Forschung zusammenführt, sondern auch und vor allem deswegen, weil sie einen Beitrag zur internationalen Wissenschaftskommunikation in einer Hochzeit wissenschaftlicher Dynamik und der Herausbildung allgemein anerkannter Wissenschaftsparadigmen leistet.
Schon die Anlage der Gliederung lässt ein tiefes Verständnis für Wissenschaftsdiskurse der Zwischenkriegszeit sowie für die Bedeutung von Raumvorstellungen in den Sozialwissenschaften erkennen, und sie ist methodisch geschickt gestaltet: Es werden hohe Erwartungen geweckt, die das Buch nicht enttäuscht. Obwohl die Arbeit stark untergliedert ist, wirkt sie nicht zergliedert, sondern der Leser wird sicher durch den gewählten Stoff geführt. Jeder Unterpunkt für sich bringt Erkenntnisgewinn und ordnet sich in den Sinnzusammenhang ein. Zudem wird jeder Abschnitt am Schluss zusammengefasst.
Der Autor widmet in den ersten beiden Kapiteln der polnischen Westforschung und den theoretischen Grundlagen der Konstruktion des Raumes, beziehungsweise den mental maps, relativ breiten Raum, womit er nicht nur die Forschungsgegenstände umreißt, sondern auch das theoretisch-methodische Rüstzeug zum Verständnis der Darlegungen vermittelt. Grundsätzlich geht es um die Verknüpfung von Wissenschaft und Politik sowohl unter dem Gesichtspunkt territorialer Legitimation nationalstaatlicher Konzepte als auch um die Professionalisierung der Wissenschaft (120). Im Aufbau der Arbeit wird der Grundgedanke einer Verbindung von Raumkonstrukt und Wissenschaftsdiskurs methodisch konsequent durchgesetzt. Dabei gelingt eine Verbindung von Problematisierung, Diskurs und historischem Verlauf in beispielhafter Weise. Briesewitz setzt sich dabei ausführlich mit der polnischen Rezeption deutscher Raumtheorien auseinander und entwickelt im dritten Kapitel einen umfassenden Katalog von Begriffen, mit denen Kategorien politischer Geografie und Geopolitik bestimmt wurden. Dabei arbeitet er überzeugend die Gemeinsamkeiten beider nationaler Diskurse heraus, die er vor allem darin sieht, dass nationalstaatliche Territorien insgesamt nicht als beliebige, sondern als existenzielle Grundlage für die Entwicklung von Staaten und Nationen behandelt worden seien (121), womit sich eine Aufwertung geografischer Räume, wie etwa Grenze und Grenzraum, verbunden habe.
Die Kapitel 4 bis 6 widmen sich einzelnen markanten Problemfeldern der Entwicklung von Raumvorstellungen der polnischen Westforschung zwischen 1918 und 1948. Auch hier findet der Aspekt der Orientierung an beziehungsweise Bezugnahme auf die deutsche Ostforschung Berücksichtigung. Das ist deshalb wichtig und interessant, weil damit eine relative Eigenständigkeit der Wissenschaftsdiskurse gegenüber der nationalen Politik belegt wird, andererseits aber auch nationale Spezifika der Bewertung von Raumkonstruktionen deutlich werden, die sich oftmals am Beispiel interner Wissenschaftsdispute fest machen, wie etwa in der Nałkowski-Romer-Kontroverse über das "natürliche Polen" (139 ff.). Sie gelten Briesewitz als Beleg dafür, dass es zu einseitig sei, nationale Raumkonstrukte lediglich als Beispiele für die Instrumentalisierung der Wissenschaft zu deuten (412). Diese würden vielmehr von transnationalen wissenschaftlichen Konfliktlinien durchkreuzt werden, die sich an methodischen Ausrichtungen orientieren (172, 290).
Bei allen theoretischen Erörterungen und Auseinandersetzungen mit Begrifflichkeiten verliert der Autor jedoch nie die Entwicklung der polnischen Westforschung aus dem Auge und stellt sehr wohl den historischen Verlauf der Herausbildung einer spezifischen Wissenschaftslandschaft in den Mittelpunkt. Das erfolgt im Abgleich mit der Entfaltung der Grundkonzepte polnischer Raumvorstellungen wie dem Polen "zwischen den Meeren", dem "Mutterländer"-Konzept sowie dem "piastischen und jegiellonischen" Modell. Kontinuität und Diskontinuität dieser Raumkonzepte überprüft der Autor am Schluss der Arbeit anhand der Legitimierung der Oder-Neiße-Grenze mit dem Konstrukt der "wiedergewonnenen Gebiete" und der Auseinandersetzung zwischen traditioneller Westforschung und der sich etablierenden polnischen marxistischen Geschichtswissenschaft.
Bei der Konzeption des Buches macht sich wohltuend bemerkbar, dass der Autor zwar am konstruktivistischen Ansatz des Raumes festhält, ihn jedoch konsequent als Produkt von Erfahrungswerten und gesellschaftlichem Handeln deutet. Raumvorstellungen sind bei Briesewitz Faktoren historischer Prozesse und nur durch das enge Wechselspiel geografischer und historischer Forschung erklärbar (12).
Der nahezu völlige Verzicht auf den historischen Hintergrund irritiert zumindest den Historiker, der nicht ausschließlich auf die Wissenschaftsgeschichte fixiert ist, vor allem angesichts der Schärfe in den deutsch-polnischen Beziehungen der Zwischenkriegszeit. Der interessierte Leser vermisst auch Bezüge zum polnischen "Ostproblem" angesichts einer ausgebildeten polnischen Osteuropaforschung und dem enormen Stellenwert der polnischen Ostgebiete und der ukrainischen Frage, wo, geopolitisch gedacht, die gleichen Problemlagen wie im Westen existierten.
Diese Einwände ändern nichts an der Tatsache, dass es sich hier um eine sehr gelungene und lesenswerte Arbeit handelt, die den Gegenstand umfassend darstellt. Sie leistet einen wichtigen Beitrag zur Beantwortung der Frage nach der Einheitlichkeit eines europäischen Wissenschaftssystems. Das Buch enthält Karten sowie ein Personenregister und ein Verzeichnis geografischer Namen.
Ralph Schattkowsky