Horst Möller / Ilse Dorothee Pautsch / Gregor Schöllgen / Hermann Wenkter / Andreas Wirsching (Hgg.): Die Einheit. Das Auswärtige Amt, das DDR-Außenministerium und der Zwei-plus-Vier-Prozess. Bearb. v. Heike Amos und Tim Geiger, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015, 834 S., 63 Abb., ISBN 978-3-525-30076-3, EUR 35,00
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Wer schon einmal eine Edition herausgegeben oder bearbeitet hat, der weiß sehr genau wie detailversessen man sein muss, um die wichtigsten Dokumente sowie die dazugehörigen, notwendigen Informationen zusammenzutragen und diese dann in gut verständlicher und leserlicher Form für den interessierten Leser aufzubereiten. Dies gilt umso mehr, wenn es um ein Thema geht, zu dem bereits nicht nur eine Vielzahl von unterschiedlichen Editionen vorliegen (7/8), sondern für das es auch mehrere Millionen lebender Zeitzeugen gibt, die die darzustellenden Ereignisse aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln wahrgenommen haben.
Mit dem hier anzuzeigenden Editionsband über den Prozess der Erlangung der Deutschen Einheit haben sich mit Heike Amos und Tim Geiger zwei erfahrene Bearbeiter der "Aktenedition zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik" (AAPD) genau dieser Herausforderung gestellt. Nachdem das Politische Archiv des Auswärtigen Amtes (PA AA) "seit 2009 [...] mehrere hundert Aktenbände zu 1989/90 vorzeitig offengelegt" hatte (9), wählten sie aus den Beständen des PA AA und den dort ebenfalls verwahrten Dokumenten des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten der DDR (MfAA) rund 170 Dokumente aus, um den Weg zur Deutschen Einheit und "den gewichtigen Beitrag des Auswärtigen Amts, aber eben auch des Außenministeriums in Ost-Berlin" (9) hierzu chronologisch nachzuzeichnen: vom Vermerk eines stellvertretenden Referatsleiters im MfAA über ausreisewillige DDR Bürger in Ungarn vom 7. Juli 1989 bis zur Berichterstattung eines Referatsleiters im AA über den KSZE-Gipfel im November 1990 in Paris.
Angesichts dieser sehr guten, nachvollziehbaren Dokumentation gilt es bei einer Bewertung der Quellen durchaus auch die Rolle der einzelnen Ministerien zu beachten. So war zum Beispiel für die Beziehungen zur DDR vorrangig das Bundeskanzleramt zuständig, für die auswärtigen Beziehungen hingegen etwa zu den Alliierten des Zweiten Weltkrieges und internationalen Organisationen (unter anderem zur EU und zur NATO) das Auswärtige Amt. Da die DDR auf dem Weg zur Deutschen Einheit immer mehr zum Objekt der Verhandlungen wurde, wird der vorliegenden Edition zukünftig eine nicht zu unterschätzende Bedeutung bei der Erforschung dieser Entwicklung zukommen.
In einer knapp 50-seitigen, klar strukturierten Einleitung verdeutlichen die beiden Bearbeiter in zehn Abschnitten zunächst auf der Basis der einschlägigen Literatur und der bereits vorliegenden Editionen, im weiteren Verlauf entlang der vorgelegten Dokumente, die Entwicklung zur deutschen Wiedervereinigung von Glasnost und Perestroika bis zum erfolgreichen Abschluss der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen. Als besonders informativ und hilfreich erweisen sich für die Lektüre bzw. Auswertung der ausgewählten Dokumente der einleitende Abschnitt über das Zustandekommen des Editionsbandes und die Auswahl der Dokumente sowie das abschließende Kapitel, in dem die Kommentierungshinweise und der Umgang mit diplomatischen Akten (manchmal etwas zu) detailliert erläutert werden. Die ausgewählten Dokumente werden mit einem Kurztitel eingeleitet, gefolgt von dem jeweiligen Verwahrungsort und wenn notwendig von kurzen Erklärungen zum darin beschriebenen Sachverhalt. In den kommentierten Fußnoten wurde darauf verzichtet, die weniger bekannten handelnden Personen und die Bedeutung ihrer jeweiligen Position für den Fortgang der Geschehnisse genauer zu beschreiben, ebenso wie "auf die Einarbeitung, der stets zeitgebundenen Forschungsliteratur" (55).
Diese über 800 Seiten umfassende Sonderedition versteht sich nicht nur als Ergänzung zu den bisher erschienenen Editionsbänden zu dieser bedeutenden historischen Periode. Vielmehr haben es sich die Bearbeiter zum Ziel gesetzt, die bisherige Darstellung, dass "das Bundeskanzleramt bisweilen als fast einzig entscheidungsrelevanter deutscher Akteur im Einigungsprozess [erscheint]" (7), zu korrigieren. Auch so ist es zu verstehen, dass die sonst sehr restriktive Handhabung der 30-Jahressperrfrist gemäß § 5, Abs. 1 Bundesarchivgesetz in diesem Fall von den verantwortlichen Referaten des AA großzügig aufgehoben wurde.
Für die Wissenschaft, aber auch für die zeithistorisch interessierte Öffentlichkeit ist dies ein Glücksfall. Anhand der in diesem Editionsband veröffentlichten Dokumente lassen sich wichtige Entscheidungen der beiden deutschen Außenministerien in den entscheidenden 17 Monaten der Jahre 1989/90 zum Teil bis auf die Referatsebene hinunter nachvollziehen. Dementsprechend wertvoll ist er für die zukünftige geschichtswissenschaftliche Forschung nicht nur zu dem Thema Deutsche Einheit. Gleichzeitig ist diese Edition sicherlich auch eine Aufforderung an weitere relevante Bundesministerien (z.B. Finanzen, Innen, Verteidigung, Wirtschaft), ihre Aktenbestände zu dem beschriebenen Zeitraum auf eine ähnliche Art und Weise zugänglich zu machen. Leider tun sich Bundesbehörden bei der Offenlegung von Akten, an denen noch lebende Entscheidungsträger mitgewirkt haben, bis zum heutigen Tag immer noch sehr schwer.
Als integrierte Geschichte, vergleichend als "tertium comparationis" aber auch multiperspektivisch im Sinne der histoire croisée angelegt, schafft es die Edition sinnvoll und gut nachvollziehbar, derzeit relevante Methoden der deutschen Geschichtswissenschaft miteinander zu verbinden. Die transnational ausgewählten Dokumente beziehen sich aufeinander und zeichnen somit ein verdichtetes, eng verflochtenes Bild der Entwicklung auf allen Handlungsebenen der deutschen auswärtigen Politik in den wenigen entscheidenden Monaten der deutschen Wiedervereinigung.
Die vorliegende Edition über die Rolle des Auswärtigen Amtes und des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten der DDR sowie derer wichtigsten Exponenten im Prozess zur Herstellung der Einheit Deutschlands (wie es im Titel des Einigungsvertrags sperrig heißt) schließt eine große Lücke in und für die Erforschung dieser bedeutenden historischen Entwicklung. In Anbetracht der mit großer Sorgfalt ausgewählten sowie kommentierten Dokumente und der aufschlussreichen Einleitung haben die Herausgeber und Bearbeiter eine Aktenedition vorgelegt, an der auf lange Sicht niemand vorbeikommt, der sich mit der Deutschen Wiedervereinigung auseinandersetzen möchte.
Dieter H. Kollmer