Markus Friedrich / Sascha Salatowsky / Luise Schorn-Schütte (Hgg.): Konfession, Politik und Gelehrsamkeit. Der Jenaer Theologe Johann Gerhard (1582-1637) im Kontext seiner Zeit (= Gothaer Forschungen zur Frühen Neuzeit; Bd. 11), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2017, 280 S., ISBN 978-3-515-11605-3, EUR 52,00
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Luise Schorn-Schütte / Sven Tode (Hgg.): Debatten über die Legitimation von Herrschaft. Politische Sprachen in der Frühen Neuzeit, Berlin: Akademie Verlag 2006
Sascha Salatowsky / Joar Haga (Hgg.): Frühneuzeitliches Luthertum. Interdisziplinäre Studien, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2022
"Johann Gerhard (1582-1637) ist einer der bedeutendsten lutherischen Theologen des 17. Jahrhunderts" (7). In merkwürdigem Kontrast dazu sind "zahlreiche Facetten seines Werkes bis heute jedoch nicht ausreichend untersucht" (ebd.). Und genau hier setzt die anzuzeigende Tagungsdokumentation an: Mit seinen 12 Beiträgen, denen eine Einleitung vorangestellt ist, greift der Band die an der Forschungsbibliothek Gotha geleistete Kärrnerarbeit der Erschließung der dort bewahrten Quellenbestände auf, um sich mit originellen Fragestellungen seinem Gegenstand zu nähern. So "versucht der Band einen neuen Anstoß für die Erforschung der Person Gerhard und seines umfassenden Werks mit besonderer Berücksichtigung seines handschriftlichen Nachlasses zu geben" (9f.). Zugeordnet sind die Studien drei Themenbereichen, die mit "Politische Normen und Praxis, Politikberatung", "Religions- und Kirchenpolitik" und "Theologie, Philosophie und Gelehrtenkultur" überschrieben sind. Ein Verzeichnis der Autoren sucht man allerdings genauso vergeblich wie irgendein Register oder Werkverzeichnis, was dem interessierten Leser die themengeleitete Lektüre vor dem Hintergrund der genannten neuen Quellenbasis nicht unbedingt erleichtert.
Der erste genannte Themenbereich umfasst vier Beiträge. Den Auftakt macht die politik- und rechtsgeschichtliche Studie von Mathias Schmoeckel, die die Aufsätze Gerhards in den Blick nimmt, welche der Theologe zu den fünfbändigen Discursus academici de iure publico beisteuerte (19-35). Gerhards dort versammelte Schriften eben als dezidiert theologische Beiträge zur Rechts- und Staatslehre scheinen grundsätzlich darum bemüht, "Frieden zu bewahren. Dies gilt besonders in Religionssachen und schließt die Milderung der Strafpraxis ein" (27). Im Ergebnis kommen die Beiträge zu den Discursus als Operationalisierungsbeispiele zu stehen, mittels derer Gerhard seine in den Loci entfalteten Gedanken anwandte und verbreitete. Mit den Analysen und Befunden Schmoeckels im Hintergrund lässt sich dann auch die Rolle einordnen, die Gerhard als Politikberater spielte und die Georg Schmidt in seinem Aufsatz exemplarisch beleuchtet (37-50): Am Beispiel von Gerhards Meinung zum Widerstand besonders im Kontext des Prager Friedens weist Schmidt nach, dass der lutherische Theologe den Vorgaben Luthers zu folgen bemüht war, ohne dabei die akute Situation aus den Augen zu verlieren. In sensibler Wahrnehmung der Kriegsnöte einerseits, der das Reich destabilisierenden Interessen der streitenden Parteien andererseits votiert Gerhard gleichermaßen reflektiert wie entschieden für politische Besonnenheit und militärische Zurückhaltung. Gerhards Tätigkeit als Superintendent und seiner Visitationspraxis widmet sich anschließend Sigrid Westphal (51-68) mit dem Ziel, Gerhard mal nicht als theologischen Denker, sondern als die obrigkeitliche Herrschaft stabilisierenden "Funktionsträger des landesherrlichen Kirchenregiments" (53) vorzustellen. Es wird deutlich, dass es Gerhard im Zuge seiner Amtsausübung zwar an Engagement nicht fehlen ließ, dass er aber auch nicht zögerte, seine kirchenleitende Funktion aufzugeben, als sich ihm bei wachsendem Bekanntheitsgrad die Möglichkeit bot, seine universitäre Laufbahn fortzusetzen. Dass sein Stellenwechsel zum Politikum wurde und mitnichten konfliktfrei verlief, nahm der zielstrebige Theologe dabei in Kauf (65-67). Die bisher thematisierten rollen- oder funktionsbedingten Facetten Gerhards führt die Studie von Hendrikje Carius luzide zusammen, indem sie die umfangreiche Korrespondenz zwischen ihm und Herzogin Christine von Sachsen-Eisenach auswertet (69-92). Auch hier begegnet Gerhard zwar als kirchlich-theologischer Amtsträger und religionspolitischer Ratgeber, tritt jedoch zusätzlich als Seelsorger, Katechet und allgemein interessierter Gesprächspartner auf, weshalb sich gerade dieser Austausch eignet, ein Porträt der vielseitigen Persönlichkeit Gerhards zu zeichnen.
Den zweiten eingangs erwähnten und drei Aufsätze umfassenden Themenbereich eröffnet Ernst Koch mit Überlegungen zur politischen Ethik Gerhards zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges (93-112), die zugleich als inhaltlich-thematische Brücke zu den ersten vier Studien gelesen werden können. Unter besonderer Berücksichtigung von theologischen Gutachten wird Gerhard als Mahner zum Frieden profiliert: Die Voten umliegender Fakultäten und Kollegen aufmerksam registrierend, tritt er entschlossen für die Wahrung der Neutralität seines Landesherrn und für die Beachtung des geltenden Reichsrechts ein. Dabei lassen die Jenaer Gutachten, deren Textentwürfe auf Gerhard zurückgehen, "ein Geflecht von theologischen Überzeugungen, realpolitischen Erwägungen und seelsorgerlich-fürsorgendem Ethos erkennen, die teilweise einander bedingen" (109). Wie sein Eintreten für Neutralität und Frieden im Angesicht der militärischen Eskalation ist auch Gerhards Verhältnisbestimmung von Staat und Kirche nur vor dem Hintergrund der rechtlichen und politischen Situation im Reich zu verstehen, wie Joar Haga nachweist (112-131). So nimmt es nicht wunder, dass die Rezeption von Luthers Zwei-Reiche- und Ständelehre in verschiedenen Kontexten zu unterschiedlichen Ergebnissen und Haltungen führen konnte: Während Gerhard die Eigenständigkeit der Kirche im Gegenüber zur weltlichen Obrigkeit verfocht, machte man sich in Dänemark-Norwegen im Sinne der Stärkung der Zentralmacht für die rechtlich-theologische Absicherung und Ausweitung der cura religionis des Königs stark. Die Untersuchung Patrizio Forestas zum kontroverstheologischen Einsatz Gerhards zeichnet im Wesentlichen die ekklesiologische Auseinandersetzung zwischen ihm und Bellarmin nach (133-145). In geschickter Beschränkung seines Gegenstands stellt Foresta die Konzilslehre beider Schwergewichte vor, um von dort aus ihren divergierenden Kirchenlehren nachzuspüren. Die Differenzbestimmung haftet dann allerdings zu sehr an den je in Anschlag gebrachten Begriffen wie "Kirche", "Konzil" oder auch "Glaube", ohne deren theologie- und dogmengeschichtlich bedingten divergierenden Deutungen oder Füllungen adäquat Rechnung zu tragen (139-144).
Den dritten und letzten Themenbereich bilden fünf Studien, deren erste von Robert Kolb stammt und sich mit "Gerhard's Use of the Old Testament in Early Homiletical and Devotional Writings" befasst (147-162). Leitend ist dabei die Einsicht, dass Gerhards Schaffen als Dogmatiker oder Seelsorger tiefgreifende exegetische Arbeit zugrunde liegt, die unter ekklesiologischen und soteriologischen Voraussetzungen auch das Alte Testament zu ihrem Gegenstand hat. Der Nachvollzug seines Verständnisses alttestamentlicher Gehalte ist folglich unabdingbar, will man Gerhards andere, vielleicht prominentere Tätigkeitsfelder in wesentlichen Teilen angemessen erschließen. Neben seinem exegetischen Tun rückt Stefan Michel das organisatorische Vermögen Gerhards in den Mittelpunkt, um sich entlang seines schwerlich zu überschätzenden Anteils am sogenannten Ernestinischen Bibelwerk seiner Hermeneutik, seiner Selbstwahrnehmung als Theologe sowie seiner Wirkung zu nähern (163-176). Die zentrale Rolle der Bibel für Gerhards Gesamtwerk ebenfalls betonend, stellt Michel das aufopferungsvolle und vielfältige Engagement Gerhards zugunsten der großen und viel rezipierten kommentierten Bibelausgabe heraus, wobei seine leitende Verantwortung nicht zuletzt als weiterer Beleg für die führende Position zu stehen kommt, die man ihm unter seinen Zeitgenossen zusprach. Diese prominente Stellung schlägt sich auch in der Tatsache nieder, dass man Gerhard bereits knapp ein Jahr nach seiner Berufung nach Jena gleichzeitig zum Rektor der Universität und zum Dekan der Theologischen Fakultät machte - und so die Leitung der öffentlichkeitswirksamen Feierlichkeiten anlässlich des Jubiläums von 1617 offenbar bewusst in seine Hände legte. Auf der Basis dieser Beobachtung widmet sich Daniel Gehrt dem Zusammenspiel von "Gelehrtenkultur und Reformationsgedenken" durch Auswertung von Reden und Disputationen Gerhards (177-223), die diesen als geschliffenen Redner, gelehrten Geschichtstheoretiker und scharfsichtigen Kontroverstheologen erscheinen lassen. Von all den bisher angeführten Facetten des schon zu Lebzeiten berühmten Lutheraners zeugt nicht zuletzt seine beeindruckende Publizistik, die Ulman Weiß schlaglichtartig quantitativ auswertet und dabei auch die Frage nach Druckern und Verlegern sowie nach seinem Publikationsbewusstsein berücksichtigt (225-259). Bei aller wohl kaum nur vorgetäuschten Bescheidenheit wusste Gerhard offenkundig um das Besondere seines umtriebigen publizistischen Schaffens, mit dem er "Position bezog zu den Problemen der Zeit, und dies so eindrucksvoll, dass er zu einer überragenden, wirkungsmächtigen Person im Luthertum wurde" (259). Diese Wirkmacht spiegelt sich auch in der den Band abschließenden Studie von Sascha Salatowsky wider, die sich mit Gerhards "Privatvorlesung zur Metaphysik aus dem Jahre 1603/4" befasst (261-280) und darüber zum einen den theologischen Denker noch einmal mit seinen reformatorischen Wurzeln intensiv ins Gespräch bringt, zum anderen am Beispiel der jesuitischen Referenzpunkte der Vorlesung aber auch seinen differenzierten Umgang mit dem anderskonfessionellen Gegenüber ausleuchtet.
So leistet der geschickt aufgebaute und ausgesprochen gehaltvolle Band insgesamt dreierlei: Er schafft durch seine durchweg erhellenden, thematisch-inhaltlich klug ineinandergreifenden Beiträge in der Tat neue Impulse für die interdisziplinäre Gerhard-Forschung, deren Desiderate genauso klar vor Augen gestellt werden wie ihre längst nicht ausgeschöpften Möglichkeiten; er leistet sodann einen wichtigen Beitrag zum Gespräch rund um die theologie-, frömmigkeits-, institutionen- und wissenschaftsgeschichtliche Beschäftigung mit dem 17. Jahrhundert; und er ist - last but not least - ein beachtenswertes Stück Werbung für die Arbeit, die in und um Gotha im Rahmen der Erschließung und Auswertung zentraler Quellenbestände geleistet wird.
Christian Volkmar Witt