Daniel Bohnert: Wittenberger Universitätstheologie im frühen 17. Jahrhundert. Eine Fallstudie zu Friedrich Balduin (1575-1627) (= Beiträge zur historischen Theologie; 183), Tübingen: Mohr Siebeck 2017, XII + 399 S., 9 s/w-Abb., 2 Tabl., ISBN 978-3-16-155474-2, EUR 99,00
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Erstaunlicherweise steht das 17. Jahrhundert - gemessen beispielsweise an Studien zur Reformation - kaum im Fokus des kirchenhistorischen Interesses. Die Gründe dafür mögen vielfältig sein: Nach der mit Pietismus und Aufklärung verbundenen anthropologischen Wende scheinen manche Themen und Fragestellungen der Zeit um 1600 vielleicht zu weit weg. Möglicherweise schrecken auch die vielen lateinischen Quellen von einer Beschäftigung mit ihnen ab, die zudem nur mit rhetorischen und philosophischen Grundkenntnissen verständlich sind. Nicht zuletzt ist das Gespenst der "toten lutherischen Orthodoxie", die angeblich nur an der reinen Lehre und nicht am Leben interessiert war, immer noch nicht vertrieben. Angesichts dieses Befundes stellt das Erscheinen einer Studie zu einem in Wittenberg lehrenden lutherischen Theologen eine Besonderheit dar. [1] Daniel Bohnert reichte seine von Markus Wriedt betreute Promotionsschrift über Friedrich Balduin an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main ein und wurde damit 2016 graduiert.
Das Buch ist in sechs Abschnitte und einen Anhang gegliedert. Am Beginn steht eine Einleitung mit dem Titel "Friedrich Balduin und Wittenberg" (1-19). Der Verfasser rechtfertigt seine Studie damit, dass Balduin ein fleißiger Theologe war. Durch vorliegendes Buch würde ein "wichtiges Desiderat der Forschung zur Geschichte der Universität Wittenberg" geschlossen (2). Kurz verweist Bohnert auf historiografische Hintergründe, um dann als Ziel seiner Arbeit zu benennen, "exemplarisch die räumlich-geographische sowie geistig-wissenschaftliche Ausstrahlung und Prägekraft eines Wittenberger Theologen in der Zeit der lutherischen Orthodoxie offen[...]legen" zu wollen (7). Dieses Ziel soll durch eine "konsequente[...] Verbindung von Sozial- und Theologiegeschichte" erreicht werden (10).
In seinem zweiten Kapitel referiert Bohnert über den "gegenwärtigen Stand der Orthodoxie-Forschung" (20-36). Dies ist insofern gerechtfertigt, weil Balduin zu den sogenannten orthodoxen Theologen gehörte. In erster Linie war er aber Lutheraner. Da Bohnert den Orthodoxiebegriff in seinem Buch nicht verwendet und er zudem nach sozialen Kontexten Balduins fragt, verwundert dieses Kapitel. Mutiger wäre es beispielsweise gewesen, Balduin konsequent als lutherischen Theologen anzusprechen, der in der Frühen Neuzeit wirkte und am Ausbau einer spezifisch lutherischen Konfessionskultur mitwirkte. Diese Kritik schmälert nichts an der Leistung des vorliegenden Buches, verdeutlicht aber das Dilemma sogenannter Orthodoxie-Forschungen.
Detailliert werden im dritten Kapitel Materialien "Zur Biographie Friedrich Balduins im Kontext der Fakultätsgeschichte" versammelt (37-122). Bohnert zeichnet den Lebensweg des aus Dresden stammenden Sohns eines Kürschners zum Superintendenten von Oelsnitz (1603) und schließlich Theologieprofessor in Wittenberg (1604) nach, der hier weitere Ämter annahm. Nebenbei bietet er eine kurze Geschichte der Theologischen Fakultät der Leucorea für die Zeit zwischen 1580 und 1627 (37-57).
Das vierte Kapitel stellt "Friedrich Balduin in seinen Wittenberger Ämtern" als Pfarrer, Generalsuperintendent, Professor und Inspektor der markgräflichen Stipendiaten vor (123-185). Bohnert berichtet darin schwerpunktmäßig über Balduins Vorlesungen und Disputationen. Er geht der Herkunft der Ordinanden und Respondenten Balduins nach. Daran wird deutlich, dass Wittenberg eine Anziehungskraft über den mitteldeutschen Raum hinaus bis weit nach Osteuropa hinein besessen hat. Wie im 17. Jahrhundert üblich, bedeutete Theologie auch für Balduin in erster Linie Auslegung der Bibel. In seinen Vorlesungen befasste er sich vornehmlich mit verschiedenen Propheten, den Psalmen und Paulusbriefen.
Im 5. Kapitel "Friedrich Balduin als Vertreter der Wittenberger Universitätstheologie im frühen 17. Jahrhundert" bietet Bohnert einen guten Überblick über die Theologie Balduins und seine zentralen Schriften (186-279). Dazu gehören die Amtstheologie "Brevis Institutio Ministrorum verbi" (1621), die Anleitung zur Exegese und daraus resultierenden Predigt "Idea Dispositionum Biblicarum" (1622) sowie die posthum erschienene, erkenntnistheoretische Schrift "Tractatus De Casibus Conscientiae" (1628).
Das 6. Kapitel "Friedrich Balduin und Wittenberger Theologievermittlung" fasst abschließend die Erträge der Studie zusammen (280-284). Mit Recht lautet der letzte Satz dieses Abschnitts (284): "Eine Differenzkriteriologie der unter dem Epochenbegriff versammelten Konzeption lutherisch-orthodoxer Theologie bleibt ein Desiderat." Vielleicht könnte man sogar noch weiter gehen und sich grundsätzlich von der Vorstellung einer Epoche einer lutherischen Orthodoxie verabschieden. Eine Definition dürfte ebenso schwerfallen, wie dies heute im Hinblick auf den Pietismus der Fall ist.
So begrüßenswert es ist, dass dem Band eine "Bibliographie Friedrich Balduins" beigegeben wurde (289-311), lässt diese doch manche Wünsche offen: Eine genauere Verzeichnung der Drucke mit Hinweis auf VD16 und VD17 wäre mindestens wünschenswert gewesen. Hilfreich wäre zudem eine Verzeichnung der Namen von Verstorbenen, für die Balduin eine Leichenpredigt gehalten hat, und Respondenten der Disputationen gewesen. So handelt es sich eigentlich nur um eine chronologische Titelliste. [2]
Ebenso ungenau bleibt das "Verzeichnis der Briefe von und an Friedrich Balduin" (309-311), dass zwar die Bibliotheken und Archive benennt, in denen Stücke nachgewiesen werden konnten, jedoch nicht die genauen Signaturen. Dies stellt vor allem deshalb eine Schwierigkeit dar, weil die "Edition ausgewählter Briefe" (312-327) ebenfalls keine Standorte oder Beschreibung der Editionsgrundlagen bietet. Auch bleibt fraglich, ob es sich beim Abdruck dieser 20 Briefe um eine Edition oder doch eher um eine Quellentranskription handelt. Freilich könnte die Liste zum gegenwärtigen Forschungsstand noch um vier Briefe erweitert werden (1614: Balduin an Benedikt Carpzov, in: Goethe-Schiller-Archiv Weimar; 1614: Benedikt Carpzov an Balduin, in: Goethe-Schiller-Archiv Weimar; 1615-04-12: Balduin an Elias Ehinger, in: UB Basel; 1616-01-03: Balduin an NN in: UB Basel [3]). Für zwei Briefe an Johann Gerhard liegen Teileditionen aus dem 18. Jahrhundert vor. [4]
Den Anhang beschließt ein "Register zum Wittenberger Ordiniertenbuch (Band VI)" für den Zeitraum von 1605 bis 1627 mit 815 Ordinationen (328-352). Die hier verzeichneten Namen und Herkunfts- und Berufungsorte verdeutlichen nochmals die im vierten Kapitel getroffenen Aussagen und können weitere Forschungen anregen.
Das Buch wird durch ein gegliedertes Quellen- und Literaturverzeichnis (353-391) sowie ein Personenregister (393-399) abgeschlossen.
Insgesamt handelt es sich um eine lesenswerte, aus den vielfach lateinischen Quellen gearbeitete Studie, die das Bild der Wittenberger Theologie und der Geschichte der Theologischen Fakultät Wittenberg zu Beginn des 17. Jahrhunderts deutlich erweitert. Auf dieser Grundlage sind anschießende vergleichende Studien, nicht nur in Hinblick auf kirchenhistorische, sondern beispielsweise auch auf universitätsgeschichtliche Fragestellungen denkbar.
Anmerkungen:
[1] Bislang kann nur auf eine neuere Studie verwiesen werden, die dem vorliegenden Buch verwandt ist: Markus Matthias: Theologie und Konfession. Der Beitrag von Ägidius Hunnius (1550-1603) zur Entstehung einer lutherischen Religionskultur (= Leucoreastudien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie; Bd. 4), Leipzig 2004.
[2] Zu ergänzen wäre außerdem: "Formula Investiturae novi Ludimoderatoris Olsnicensis usurpata a M. F. Balduino, Superintendente Olsnicensi usque ad ann. 1604. Ex Autographo B. Balduini", in: Fortgesetzte Sammlung von alten und neuen theologischen Sachen [...], Leipzig 1732, 706-714.
[3] Der Brief ist als Scan verfügbar: http://www.e-manuscripta.ch/doi/10.7891/e-manuscripta-16158 [2018-03-16].
[4] Vgl. Erdmann Rudolph Fischer: Vita Joannis Gerhardi, Leipzig 1723, 212f., 213f.
Stefan Michel