Michael Gehler: Europa. Ideen, Institutionen, Vereinigung, Zusammenhalt, 3., komplett überarb. u. erheb. erw. Aufl., München: Olzog Verlag 2017, 1318 S., ISBN 978-3-9576-8188-1, EUR 48,00
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Klaus Malettke: Hegemonie - multipolares System - Gleichgewicht. 1648/1659-1713/1714, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2012
John Watts: The Making of Polities. Europe, 1300-1500, Cambridge: Cambridge University Press 2009
Patrick Bredebach: Das richtige Europa schaffen. Europa als Konkurrenzthema zwischen Sozial- und Christdemokraten. Deutschland und Italien von 1945 bis 1963 im Vergleich, Göttingen: V&R unipress 2013
Klaus Schwabe: Jean Monnet. Frankreich, die Deutschen und die Einigung Europas, Baden-Baden: NOMOS 2016
Michael Gehler (Hg.): Akten zur Südtirol-Politik 1945-1958. Band 3. Erzwungenes Autonomiestatut und Optantendekret 1947/48, Innsbruck: StudienVerlag 2021
Michael Gehler / Maddalena Guiotto (Hgg.): Italien, Österreich und die Bundesrepublik Deutschland in Europa. Ein Dreiecksverhältnis in seinen wechselseitigen Beziehungen und Wahrnehmungen von 1945/49 bis zur Gegenwart, Wien: Böhlau 2012
Michael Gehler / Andrea Brait (Hgg.): Von den Umbrüchen in Mittel- und Osteuropa bis zum Zerfall der Sowjetunion 1985-1991. Eine Dokumentation aus der Perspektive der Ballhausplatzdiplomatie, Hildesheim: Georg Olms Verlag 2023
Das sechzigste Jubiläum der Unterzeichnung der Gründungsverträge von Rom nimmt Michael Gehler zum Anlass, sein umfangreiches Kompendium zur Integrationsgeschichte Europas in dritter, noch einmal deutlich erweiterter Auflage (1. Auflage 2005) vorzulegen. Auf knapp 900 Seiten diskutiert Gehler, Inhaber des renommierten Jean-Monnet-Lehrstuhls für vergleichende Zeitgeschichte Europas an der Stiftung Universität Hildesheim, detailliert und problemorientiert historische Hintergründe, Ursprünge und Zusammenhänge sowie Perspektiven des europäischen Integrationsprozesses, indem er die großen Linien europäischer Ideen- und Institutionengeschichte von der Antike bis zu den Herausforderungen und Krisen der jüngsten Gegenwart zieht. Das Werk folgt - im Vergleich zu anderen Einführungswerken durchaus bemerkenswert - konsequent einer gesamteuropäischen Anlage, indem es die Entwicklung der europäischen Institutionen in die Geschichte Gesamteuropas einbettet und der Darstellung weltpolitischer Kontexte sowie ost- und außereuropäischer Perspektiven breiten Raum gibt.
Die Darstellung ist in sieben, überwiegend chronologische Kapitel gegliedert. Ein Vorwort führt skizzenhaft in Problem, Aufbau und Ziele des Werks ein; Informationen zu zentralen Begriffen, Methodik und Forschungsstand werden in die inhaltliche Darstellung integriert (Kapitel IV, VI, Nachwort). Der Annahme folgend, dass Europa "kein kurzfristiges Gebilde der letzten 60, 100 oder 200 Jahre" sei (647), sondern das Ergebnis einer langen historischen Entwicklung, setzt Gehler mit einer Spurensuche nach "Ursprüngen und Charakteristika" europäischer Einigung ein (Kapitel I). Von der Antike bis ins 20. Jahrhundert seien Heterogenität, Wandel und Konflikte die Konstanten europäischer Geschichte gewesen. Darauf aufbauend analysiert Gehler kenntnisreich historische Europa-Konzepte, von Dante Alighieri über Immanuel Kant und dem "Paneuropa" Richard Coudenhove-Kalergis bis zu Jean Monnet, im "Spannungsfeld von Anspruch und Wirklichkeit" (Kapitel II). Ideen allein reichten nicht aus, so die These und zugleich Leitlinie der gesamten Darstellung; erst eine Kombination aus gezielter Propagierung von Ideen mit ihrer gewollten Verwirklichung durch dauerhafte Institutionen konnte der Einigung des Kontinents den Weg bereiten.
Der Weg der institutionellen Vereinigung Europas ist der Gegenstand des dritten Kapitels, das den inhaltlichen Schwerpunkt darstellt. Der Autor beschreibt detailreich die Entwicklung der europäischen Einigung von den Anfängen im Marshall-Plan und den Römischen Verträgen über die verschiedenen Erweiterungsrunden und Vertragsänderungen bis in die Eurokrise als eine wechselnde Abfolge von Krisen und Fortschritten, womit Gehler der Versuchung einer europäischen Erfolgsgeschichtsschreibung widersteht. Der Integrationsprozess wird stets in die globalen und gesamteuropäischen Kontexte eingebettet. Die Darstellung des ideologischen Gegensatzes zwischen Ost und West, für Gehler "eine der Grundbedingungen für die Entstehung und Entwicklung der westeuropäischen Integration" (302), nimmt breiten Raum ein. Ausführlich kommen unter anderem die Ursprünge und Folgen der Revolutionen in Mittel- und Osteuropa, NATO-Osterweiterung und Balkankrise zur Sprache. Besonders bemerkenswert: Neben westeuropäischen Akteuren werden auch nichtstaatliche, süd-, ost- und außereuropäische Perspektiven, transnationale Netzwerke und innenpolitische Entwicklungen in verschiedenen Staaten in die Darstellung integriert. Durch Diskussion aktueller Forschungsdebatten setzt Gehler eigene Akzente. Kritisch beleuchtet werden auch Rückschläge und negative Folgen des Einigungsprozesses. So sei die fortschreitende Integration Westeuropas "mit Desintegration Hand in Hand" (370) gegangen und habe die Spaltung des europäischen Kontinents lange Zeit verstärkt. Das Kapitel schließt mit einer (sehr USA-)kritischen Betrachtung der transatlantischen Beziehungen sowie Ausführungen zu Eurokrise und Globalisierung.
Kapitel IV diskutiert die institutionelle Verfasstheit der EU im Spannungsfeld von Nationalstaat und Supranationalität. Gehler bestimmt die EU in Auseinandersetzung mit politikwissenschaftlicher Imperienforschung anschaulich als "ein kontinentales und hegemoniales Herrschaftsgebilde mit imperialen Zügen eigener, v.a. postmoderner Art" (632), das sich nicht durch militärische Macht, sondern durch kulturelle und wirtschaftliche "soft power" auszeichne. Kapitel V unternimmt den Versuch einer vorläufigen Bilanz. Kritisch anzumerken ist in diesen Teilen die zeitliche Beschränkung auf die Entwicklungen bis 2010, die etwas künstlich wirkt und den Eindruck der Unvollständigkeit und Vorläufigkeit vermittelt. Man merkt, dass diese Abschnitte weitgehend aus der vorherigen Auflage von 2010 stammen; eine Fortschreibung und Integration in die Kapitel VI und VII, deren Inhalte bis ins Jahr 2017 reichen, wäre empfehlenswert.
Genuine Forschung leistet Gehler in Kapitel VI zur "mehrdimensionalen Komplexitätskrise der Gegenwart", in dem die Entwicklung der EU angesichts von Euro-, Ukraine- und Flüchtlingskrise dargestellt wird. Souverän zeichnet er die historischen Entwicklungslinien der Krisen nach. Dabei wird die Analyse mit politischen Wertungen verbunden, die man nicht teilen muss, die jedoch zu Reflexion und Diskussion anregen. In Teilen einseitig sind die Darstellungen zur Eurokrise, die für Gehler "weit weniger eine Krise dieser Währung, sondern die Folge der Versäumnisse schlecht aufgestellter Staaten" (681) ist. Dementsprechend unkritisch sind die Ausführungen zur Rettungspolitik der Austerität. Perspektiven der südlichen Eurostaaten finden kaum Berücksichtigung, die verschiedenen Ebenen der Krise (Banken-, Staatsschulden- und Währungskrise) werden nicht differenziert betrachtet.
Das abschließende Kapitel VII führt die Generalthese weiter, wonach die Verbindung von Ideen, Institutionen und endogen und exogen bewirkten Europäisierungen "eines der Erfolgsrezepte der europäischen Integration" war, ist und bleibt. Kritisch setzt sich Gehler mit den "Geburtsfehlern der EU" wie dem Fehlen einer europäischen Identität oder der unklaren Finalität sowie den Versäumnissen der EU seit 1990 auseinander und formuliert zentrale Anforderungen für die Zukunftsfähigkeit der EU. Trotz des kritischen Blicks bleibt Gehler dem angenehm europafreundlichen Ton treu: Das EU-Europa habe die Chance, "trotz seiner Krisen und Turbulenzen [...], Erfolgsmodell des 21. Jahrhunderts zu bleiben" (864), solange die Vorteile der Integration die Nachteile überwögen.
Ein solches Werk zu schreiben, ist eine Mammutaufgabe, die Michael Gehler mit Bravour meistert, indem er eine problemorientierte und perspektivenreiche Darstellung zur Geschichte der europäischen Integration auf Basis breiter Literaturkenntnis (über 2600 Anmerkungen) vorlegt. Die zahlreichen Abbildungen, das umfangreiche Glossarium, eine detaillierte Chronologie sowie die umfassende Bibliographie runden die Darstellung ab. Man vermisst lediglich ein Sachregister. Dass dieses Buch "nicht an einem Stück" gelesen werden muss, sondern die einzelnen Kapitel auch für sich stehen können, so der Selbstanspruch Gehlers, führt zum Teil zu inhaltlichen Brüchen und Redundanzen. Dies schmälert jedoch nicht den hervorragenden Gesamteindruck. Wer ein umfassendes Nachschlagewerk sucht, das die europäische Integration in die langen ideengeschichtlichen Linien und den gesamteuropäischen Rahmen einbettet und auch für die universitäre Lehre geeignet ist, wird an diesem Standardwerk Michael Gehlers nicht vorbeikommen.
Bastian Knautz