John Watts: The Making of Polities. Europe, 1300-1500 (= Cambridge Medieval Textbooks), Cambridge: Cambridge University Press 2009, xiii + 466 S., ISBN 978-0-521-79664-4, GBP 17,99
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Mit einer über 450 dichtbedruckten Seiten langen Studie stellt sich der Oxforder Historiker einer gewaltigen Herausforderung: Sein Ziel ist es, die politischen Entwicklungen in der an Ereignissen und Veränderungen keineswegs armen Zeit zwischen 1300 und 1500, von Skandinavien bis zum Balkan und von Spanien bis nach Ungarn, zu erfassen und zu analysieren. Im Mittelpunkt steht dabei weniger eine erneute Beschreibung des Spätmittelalters als einer Periode von "waning, transition, crises, and disorder" (1). Vielmehr möchte der Autor eine Synthese der politischen Prozesse unter dem Fokus von gemeinsamen, überall parallel verlaufenden "consonances and shared patterns [...] of European political life" (3) geben. In der Einleitung grenzt sich der Verfasser gegen die bisherige englische und kontinentale Historiographie (vor allem die französische durch Heers, Guenée und Genet vertretene) und von ihren verfassungszentrierten oder prosopographischen Erklärungsmustern für staatliche Entwicklung ab. Stattdessen stellt er Strukturen als eigene Analysekategorie vor. Diese definiert der Verfasser als "frames, forms and patterns which conditioned [...] politics" (35), und meint damit - jenseits ihrer insbesondere durch die französische Forschung geprägten Konnotation durch die Schule der Annales oder durch neuere strukturalistische Strömungen - sowohl politisch-sozial institutionalisierte Strukturen (Königreiche, Städte, Zünfte, Gerichtsbarkeiten...) als auch "Substrukturen" wie Netzwerke, militärische Organisationsformen, Steuersysteme sowie Kommunikationsformen und mentale Codes (35). Der Autor möchte sich von einem rein institutionellen Ansatz lösen, indem er die damaligen zur Verfügung stehenden Strukturen für Handlungsmöglichkeiten als "major frameworks of contemporary thinking", die "languages" (36) des politischen Aushandlungsprozesses, miteinbezieht. "Polities" sind somit nicht nur die institutionellen Entitäten, sondern sie können heruntergebrochen werden auf jegliche politische und interagierende Struktur, die wiederum den Prozess der europäischen politischen Geschichte von 1300 bis 1500 beeinflusste.
Die Gliederung des vorliegenden Buches ist mit ihren drei ausgewogenen Teilen, die sich nach den drei behandelten Jahrhunderten richten, dem selbstproklamierten innovativen Ansatz zum Trotz, recht konventionell. Dabei nimmt das thematisch aufgebaute Kapitel über das 13. Jahrhundert eine einleitende und für die späteren Entwicklungen synthetisierende Funktion ein. In den folgenden Teilen über das 14. und 15. Jahrhundert kann der Autor seine vorgestellte Herangehensweise durchexerzieren: Jedes Kapitel beginnt mit einem Abriss über die politischen Entwicklungen und Ereignisse; für den Anfang des 14. Jahrhunderts wurde eine streng geographische Unterteilung gewählt (beispielsweise "East-central Europe", "Russia and the Balkans"), diese durchbricht der Autor jedoch bereits ab 1400 bzw. spätestens ab 1450 (beispielsweise mit Kapiteln wie "The Hundred Years' War in Western Europe" oder "The papacy and the Great Schism") und zwecks einer besseren thematischen Fokussierung (wie "Bohemia and the Hussite Revolution" oder "Civil wars"). Dennoch behalten die Kapitel einen parallelen Aufbau bei: Dem Abriss über die politischen Ereignisse folgt eine strukturelle Analyse mit einer synchronen und europäisch vergleichenden thematischen Schwerpunktsetzung. Für das 14. Jahrhundert schließt dies neben Institutionen wie Justiz und Steuerwesen als "patterns" und "structures" auch Repräsentationssysteme, Patronage und politische Kommunikation, die Rolle der Kanzleien sowie die Bedeutung der Schriftlichkeit und den Ausdruck des politisches Denkens sowie Schriften ein. Dabei werden Konzepte wie das "bien commun" (77, 259, 385) oder die Rolle von politischen Traktaten wie des Defensor Pacis (134, 171, 256) als bedeutend erwähnt, eine Begründung hierfür erfolgt jedoch nicht. Für diesen Teil ist hervorzuheben, dass der Verfasser konsequent und sehr ausführlich die Kurie und die innerkirchlichen Konflikte sowie die Konzilien in die europäische Politikgeschichte einbindet; ebenso räumt er in seiner Studie kulturellen oder kommunikativen Strukturen einen gleichberechtigten, ja gar höheren Platz als Personen (420) neben Institutionen wie Justiz, Militär und neben Konfliktlösungsstrategien ein.
Mit der vom Autor als "positive [...] trajectory" (420) Europas proklamierten Stoßrichtung verfolgt diese Politikgeschichte eine quasi teleologisch-lineare Entwicklung eines "growth of government" (205) im 14. hin zu einer "consolidation [of] regnal polity" (376) im 15. Jahrhundert. Die Anfänge des modernen Staates macht der Verfasser für ganz Europa gleichermaßen aus. Um dies zu verstehen, zeichnet er überzeugend die Strukturen der Prozesse, ihre Einflüsse sowie Rückwirkungen nach. Der Ansatz, Netzwerke, Verwaltung, kulturelle Entwicklungen oder politische Diskurse einzubeziehen, wird ausdrücklich als bereichernd empfunden. Da politische "Gesamttrends" und stabile Strukturen überall auf dem Kontinent und den britischen Inseln im Fokus stehen, blieben soziale, kulturelle und ökonomische Veränderungen (beispielsweise die Pest und ihre Folgen, unterschiedliche europäische Urbanisierungsgrade, die Entwicklungen durch die Renaissance) außen vor. Erlaubt sei die Anmerkung, dass die geographischen Ränder Europas immer auch an den erzählerischen Rändern der Kapitel knapp abgehandelt auftauchen, doch kann man dies dem Autor angesichts des bewältigten Stoffes wirklich vorwerfen? Etwas ratlos hingegen blieb die Rezensentin bei der Einordnung der Studie und ihrer Zielgruppe, denn die Studie eignet sich nur begrenzt als Einführung - zu viele Namen und Dynastien, Orte und Schlachten, politische Bewegungen sowie Quellenbegriffe werden als bekannt vorausgesetzt, verwendet und nicht erklärt, weshalb den Studierenden in frühen Semestern das Werk trotz (oder gerade wegen) seiner Informationsdichte schwer zugänglich bleiben wird. Weiterführende Literatur oder Quellen fehlen in den Fußnoten; dafür folgt eine straffe, thematisch sortierte Bibliographie am Ende des Werks. Durch das stete Rekurrieren auf Frankreich als Fallbeispiel, entstanden durch die vom Verfasser selbst eingeräumte vorrangige Verarbeitung französischer Sekundärliteratur (xi), wird man das Gefühl nicht los, dass hier für ein britisches Publikum gleichzeitig ein Transfer wie eine Abgrenzung zur eigenen Historiographie vollzogen wird. Derjenige aber, der eine komparatistisch angelegte politische Beschreibung sucht, die strukturelle und kommunikative Faktoren für die politischen Entwicklungen jenseits der traditionellen nationalen Institutionengeschichte einbezieht, der wird in dem vorliegenden Werk eine Einführung in eine "neue Politikgeschichte" [1] Europas im Spätmittelalter finden, die dank ihrer Fülle sowie durch die Breite der behandelten Themen besticht.
Anmerkung:
[1] Angelehnt an Ute Frevert: Neue Politikgeschichte, Frankfurt 22009.
Vanina Kopp