Hélène Miard-Delacroix / Guido Thiemeyer (Hgg.): Der Rhein / Le Rhin. Eine politische Landschaft zwischen Deutschland und Frankreich 1815 bis heute / Un espace partagé entre la France et l'Allemagne de 1815 à nos jours (= Schriftenreihe des Deutsch-französischen Historikerkomitees; Bd. 14), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2018, 260 S., 6 Tbl., ISBN 978-3-515-12113-2, EUR 49,00
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Guido Thiemeyer: Internationalisierung und Diplomatie. Währungspolitische Kooperation im europäischen Staatensystem 1865-1900, München: Oldenbourg 2007
Christian Henrich-Franke / Claudia Hiepel / Guido Thiemeyer et al. (Hgg.): Grenzüberschreitende institutionalisierte Zusammenarbeit von der Antike bis zur Gegenwart, Baden-Baden: NOMOS 2019
Guido Thiemeyer: Europäische Integration. Motive, Prozesse, Strukturen, Stuttgart: UTB 2010
Zum 13. Mal fand im September 2016 die Konferenz des Deutsch-Französischen Historikerkomitees statt. Thema war der Rhein als politische Landschaft zwischen Deutschland und Frankreich von 1815 bis heute. Unter der Prämisse, dass der Rhein und das Rheinland ein Mikrokosmos der deutsch-französischen Beziehungen seien, diskutierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus beiden Ländern konkrete Beispiele aus den letzten zweihundert Jahren. Fünfzehn der zwanzig bei dieser Konferenz gehaltenen Vorträge sind in diesem Tagungsband, herausgegeben von Hélène Miard-Delacroix und Guido Thiemeyer, publiziert. Nach einer Einführung durch die Herausgeber schließen sich die Beiträge, gegliedert nach historischen Epochen, an. Das 19. Jahrhundert ist mit vier Beiträgen vertreten (17-71), die Zwischenkriegszeit und der Zweite Weltkrieg mit fünf (75-175) und die Zeit nach 1945 mit sechs Aufsätzen (179-256). Abgerundet wird der Band mit einem Verzeichnis der Autorinnen und Autoren, die mit ihren Arbeits- und Publikationsschwerpunkten vorgestellt werden (257-260).
Einführend verorten die Herausgeber ihre Publikation im größeren Rahmen der europäischen Rhein-Historiographie, in der zunehmend von einem "Espace Partagé" gesprochen werde: "Der Rhein-Raum wird nun als hybrides Ordnungsmodell gesehen, in dem verschiedene Akteure mit unterschiedlichen Interessen und geistigen Hintergründen aufeinandertrafen. [...] Der Rhein erscheint dann nicht mehr als deutsch-französischer oder europäischer Raum, sondern als Region mit eigenen, hybriden, zum Teil zuwider laufenden Strukturen und Prozessen."(8)
Vor diesem Hintergrund verfolgt die vorliegende Publikation zwei Ziele: Erstens will sie neuere Forschungen jüngerer Autorinnen und Autoren publizieren, die um Beiträge etablierter Wissenschaftler ergänzt werden. Zweitens möchte sie die deutsch-französische Perspektive der Rhein-Forschung stärken (10).
Die Bandbreite der Beiträge ist groß und der gemeinsame Nenner ist mal mehr und mal weniger klar zu erkennen. Eine gelungene Umsetzung stellt der Aufsatz von Nils Bennemann dar, der die kartographischen Ordnungsvorstellungen in den badisch-französischen Rheinkarten der Jahre 1828 bis 1840 untersucht (49-58). Diese Karten, von denen es jeweils badische und französische Ausgaben gab, waren Ausfluss einer langjährigen wissenschaftlichen Kooperation zwischen Frankreich und Baden sowie Ergebnis der Arbeit einer mit Teilnehmern aus beiden Ländern besetzten Kommission. Überzeugend arbeitet Bennemann heraus, dass diese Zusammenarbeit nicht zu einer gemeinsamen Sichtweise auf die Rheingrenze geführt habe. Die vorherrschende Perspektive auf das eigene und das fremde Territorium habe sich nicht verändert.
Besonders treffend greift auch Anne-Marie Corbin das Thema Rhein im vorgenannten Sinn auf (205-217). Klar arbeitet sie heraus, wie sich in den 1970er-Jahren eine grenzüberschreitende Protestkultur im Kampf gegen geplante Atomkraftwerke entwickelte. Hierin sieht sie eine "neue soziale Bewegung" (206), die eine ebenso neue Kultur des deutsch-französischen Dialogs hervorgebracht habe.
In fast schon traditioneller Form, dafür aber nicht weniger interessant, beschäftigt sich François Walter mit der Entstehung des Rheins als "figure paysagère de la nation" (29-48). Gerade im 19. Jahrhundert habe die Rheinlandschaft, aufgeladen mit politischen und kulturellen Bildern, romantisch verklärt und mit mythischen Elementen angereichert, zunehmend an symbolischer Bedeutung gewonnen. Vor allem als deutscher Fluss sei sie zu einem nationalen Symbol geworden. Dieser Instrumentalisierung stellt Walter eine französische Wahrnehmung gegenüber, die die deutsche Sicht als "ideologische Täuschung" empfand (43).
Einen thematischen Schwerpunkt des Bandes bildet die Zwischenkriegszeit. Mit den Folgen der französischen Besetzung deutscher Territorien nach dem Ersten Weltkrieg beschäftigen sich die Aufsätze von Karin Trieloff, Stefan Goch und Brigitte Braun, die in ihrem Aufsatz die Entstehung und Rezeption des UFA-Films "Der Rhein in Vergangenheit und Gegenwart" untersucht (149-163).
Das Spannungsfeld zwischen lokaler Wahrnehmung der Besetzung und beginnender deutsch-französischer Entspannungspolitik schildert Karin Trieloff am Beispiel der sogenannten Affäre Rouzier, einem Wirtshausstreit mit Todesfolge und anschließendem Prozess (87-99). Sie arbeitet heraus, dass die Interpretation der namensgebenden Affäre auf deutscher und französischer Seite sehr unterschiedlich ausfiel und sich zwischen den Extremen 'willkürliche Mordtat' und 'Notwehr' bewegte. Interessant wird dieser lokale Fall durch seine Rückwirkungen auf die nationale und internationale Politik. Trieloff zeigt, wie er sich für die je eigenen politischen Ziele instrumentalisieren ließ und ihn gerade die deutsche Seite nutzte, um die alliierte Besetzung zu diskreditieren.
Mit der gegenseitigen Wahrnehmung von Franzosen und Deutschen während der Ruhrbesetzung beschäftigt sich Stefan Goch (101-148). In seiner detailgesättigten Darstellung will er am lokalen Beispiel Gelsenkirchen einen Blick von unten auf die Ruhrbesetzung werfen (101f.). Diesem Anspruch wird Goch nur zum Teil gerecht. Vornehmlich aus deutscher Sicht stehen die lokalen und kommunalen Entscheidungsträger sowie ihr Handeln im Mittelpunkt seiner Untersuchung. Seine Kernthese lautet, dass der sogenannte Ruhrkampf nur geringe Auswirkungen auf die Einstellungen der Zivilbevölkerung hatte und der Alltag der Arbeiterschaft nicht von dieser Auseinandersetzung bestimmt worden sei. Seine Argumente können hier jedoch nicht restlos überzeugen, schreibt er doch selbst, dass der passive Widerstand anfangs milieuübergreifend erfolgt sei (105). Schließlich konstatiert Goch ab Mitte 1923 einen nachlassenden Widerstand in der Arbeiterschaft - den es also doch gab - da die Bewältigung des alltäglichen Lebens immer mehr in den Vordergrund gerückt sei (138ff.). Kann dieser Befund aber aufgrund der multiplen Probleme jener Zeit wirklich überraschen?
Mit ganz anderen Themen beschäftigen sich die Beiträge für die Zeit nach 1945. Am Rhein entwickelte sich aus der deutsch-französischen Konkurrenz zunehmend eine Kooperation in einem zusammenwachsenden Europa. So widmet sich Claudia Hiepel den Euregios am Rhein (219-231) oder Fabrice Gireaud dem Eurodistrikt Strassburg-Ortenau (233-242).
Zunehmende Verflechtungen über politische Grenzen hinweg entwickelten sich darüber hinaus auch in Bereichen, die nicht immer im Fokus der historischen Forschung stehen. So analysiert Martial Libera das Verhältnis der Handelskammern in der Oberrheinregion von 1945 bis 1970 (191-203) und arbeitet heraus, dass sich deren Beziehungen relativ unabhängig vom deutsch-französischen Verhältnis entwickelt hätten. Prägender seien dagegen äußere Zwänge gewesen, wie die fortschreitende europäische Integration oder die Wirtschaftskrise der 1970er-Jahre. Es seien diese Faktoren gewesen, die zu den unterschiedlichsten Formen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit geführt hätten.
Als hilfreich für künftige Untersuchungen könnte sich schließlich der Ansatz von Rainer Hudemann erweisen, der am Beispiel Straßburgs 15 Wirkungselemente identifiziert, um komplexe Prozesse grenzüberschreitender Verflechtung zu untersuchen (243-256). Über die besprochenen Beiträge hinaus bietet der Sammelband einen breiten und überaus anregenden Überblick zum aktuellen Stand der Rheinforschung. Er stellt daher eine Lektüre dar, die wirklich lohnt.
Christian Henke