Włodzimierz Borodziej / Maciej Górny: Der vergessene Weltkrieg. Europas Osten 1912-1923. Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2018, 2 Bde., 960 S., 124 s/w-Abb., 6 Kt., ISBN 978-3-8062-3820-4, EUR 79,95
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Die hundertsten Jahrestage des Ersten Weltkriegs sind vorbei und haben eine große Menge an neuen Studien und Überblicksdarstellungen beschert. Nach wie vor liegt der Fokus hauptsächlich auf der Westfront, während der Osten in weiten Teilen ein "vergessener Weltkrieg" bleibt. Umso erfreulicher, dass unter diesem Titel nun mit Włodzimierz Borodziej und Maciej Górny zwei ausgewiesene Kenner eine Synthese des dortigen Geschehens vorlegen. Das Original erschien vor Kurzem auf Polnisch als "Nasza Wojna" - "Unser Krieg" -, was Absicht und Publikum der beiden Autoren präzise trifft: Sie zeigen, wie sehr das heutige Osteuropa durch diesen Krieg geformt wurde, wie es überhaupt erst dadurch entstand; und sie argumentieren, dass der "Great War" keinesfalls nur eine Angelegenheit der Großmächte ohne jede Relevanz für Länder wie Polen oder die Ukraine gewesen ist.
Schon alleine deshalb ist es vollauf überzeugend, die Darstellung bereits 1912 mit den Balkankriegen zu beginnen und sie bis ins Jahr 1923 auszudehnen. Anders als im Westen endeten die Kämpfe keinesfalls mit der deutschen de facto-Kapitulation, ganz im Gegenteil gingen sie beinahe nahtlos weiter. Freilich nun nicht mehr getragen von den Millionenheeren der untergegangenen Kaiserreiche, sondern von neuen Nationalstaaten und -bewegungen. Sicher war das weniger eindrucksvoll - und wurde im Westen viel weniger rezipiert -, aber gerade die Zivilbevölkerung war nun einer drastisch gesteigerten Gewalt ausgesetzt. Und am Ende stand eine revolutionäre Neuordnung, die umfassender nicht hätte sein können: Neue Staaten, neue Gesellschaftsordnungen, Demokratien, Diktaturen und kommunistische Experimente ersetzten drei jahrhundertealte Monarchien, die einen gigantischen Raum unter sich aufgeteilt hatten. Nicht alles war anders, aber doch fast alles - vielleicht sogar in noch größerem Maße als 1989. Umso erstaunlicher, wie wenig wir uns dieser Transformationen bewusst sind.
Die Bände tragen als Titel einmal "Imperien" und einmal "Nationen", was die Grundthemen vorgibt. 1916 als Ende des einen und 1917 als Beginn des zweiten Buches sind Zäsuren, die sich hierzulande nicht auf den ersten Blick erschließen. Die klassische Zeitgeschichtsforschung kennt seit Hans Rothfels zwar 1917 als Epochenjahr, wegen des Kriegseintritts der USA und der russischen Oktoberrevolution, aber das ist hier nicht gemeint. Stattdessen werden die Proklamation des Königreichs Polen durch Deutschland und Österreich-Ungarn am 5. November 1916 sowie die russische Februarrevolution ins Zentrum gestellt, weil sie für die Nationalbewegungen Ostmitteleuropas wesentlich bedeutsamer waren. Der zweite Band reicht dann bis zum tatsächlichen Frieden in dieser Region, als Staaten entweder etabliert oder, wie die Ukraine, untergegangen waren.
Von dieser Einteilung sollte man sich aber nicht täuschen lassen: Mitnichten liefern die Autoren hier eine klassische politische oder militärische Geschichte. Ganz im Gegenteil nehmen soziale, kulturelle und wissenschaftliche Entwicklungen einen breiten Raum ein. Transnationale Phänomene und gegenläufige Tendenzen werden beschrieben, so dass gemeinsame Entwicklungen und Sonderwege deutlich werden. Die Autoren zeigen deutlich, wie sinnlos dieser Krieg den allermeisten Zeitgenossen in den "lands between" erschien. Dass das Jahr 1918 dann die von den Eliten lange ersehnte Unabhängigkeit brachte, verzerrte im Rückblick die Erinnerung und verlieh dem Leiden davor und danach scheinbar einen Sinn. Auch dagegen wenden sich die beiden Bände, indem sie populäre Mythen der Nationalstaatswerdung hinterfragen. Sie tun das in einem geographisch breiten Rahmen, der alle Länder Ostmittel- und Südosteuropas betrachtet, also die Kriegsteilnehmer, deren Auseinandersetzungen Winston Churchill herablassend als "Hader der Pygmäen" bezeichnet hatte.
Borodziej und Górny sind Historiker, die viel in und zu Deutschland und Westeuropa geforscht haben. Dementsprechend ist ihr Blickwinkel keineswegs nur polnisch, sondern erschließt sich durchaus aus deutschen Lesern. Das gilt, obwohl das Buch mit seiner tour d'horizon durch Ostmitteleuropa eher nicht auf hierzulande vorhandenes Wissen rekurriert. In dieser Hinsicht mag es eine Herausforderung darstellen, ansonsten ist es vor allem ein ganz großer Wurf und immer höchst anregend. Und mehr noch, dank der vorzüglichen Übersetzung von Bernhard Hartmann ist es gut zu lesen und kann wegen seiner breiten Perspektive jederzeit als Lektüre auch Nichtspezialisten empfohlen werden. Zahlreiche Bilder illustrieren das geschriebene Wort und bieten ungewohnte Seherlebnisse, einzig gelegentlich eingeschobene gewissermaßen lexikalische Passagen, die in einer anderen Schriftart thematische Einschübe bilden - von Mangelwirtschaft über einzelne Schlachten bis hin zu Mitteleuropa - stören bei aller Gelehrsamkeit den Lesefluss.
"Der vergessene Weltkrieg" versucht keine systematische Erschließung der Kriege im Osten. Diplomatiegeschichte findet man darin nicht, und obwohl die beiden Bände eine chronologische Zäsur abbilden, folgen sie keiner Darstellung im Zeitverlauf. Und wo das erste Buch mit Fronten, Hinterland und Besatzung drei recht eindeutig unterteilte Hauptkapitel aufweist, wird es im zweiten mit "Giganten und Pygmäen", "Kaleidoskop" und "Mafia" deutlich essayistischer. Das ist nicht unbedingt von Nachteil, belegt aber den Charakter eines weitgespannten Streifzugs durch eine in Deutschland oft verkannte und ignorierte Region - allerdings auf höchstem wissenschaftlichem Niveau und am Puls der Forschung. Es ist höchst erfreulich, dass die Wissenschaftliche Buchgesellschaft das verlegerische Risiko einer deutschen Ausgabe dieses großen Wurfs eingegangen ist. Man darf ihr viel Erfolg wünschen, selbst wenn der Preis im Widerspruch zu einer weiten Verbreitung stehen dürfte. Aber das muss der ebenso verdienten wie notwendigen wissenschaftlichen Perzeption nicht entgegenstehen. Borodziej und Górny haben ein Werk vorgelegt, das ein starkes Plädoyer für neue, nicht nur westliche Zäsuren und Perspektiven auf den Ersten Weltkrieg ist.
Stephan Lehnstaedt