Sissy Helff / Stefanie Michels (eds.): Global Photographies. Memory - History - Archives (= Image; Vol. 76), Bielefeld: transcript 2018, 208 S., 15 Farb-, 16 s/w-Abb., ISBN 978-3-8376-3006-0, EUR 34,99
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Ein schmaler Band mit weit gespannten Ambitionen. Interdisziplinäre Perspektiven auf globale Praktiken, Fotografie im Familiengedächtnis, zeitgenössische Kunst und koloniale Erinnerung, kurz: alles, was schon mal irgendwie wichtig gewesen ist, findet sich dicht gedrängt auf wenigen Zeilen im Klappentext des schlicht in schwarz und weiß gehaltenen Sammelbandes im Paperback-Format. Das Buch, so viel sei an dieser Stelle vorausgeschickt, richtet sich eigentlich nicht an Debütanten wissenschaftlicher Salonkultur. Und selbst routinierte Adepten in Bielefeld verlegter Fachliteratur geraten zumindest kurzzeitig ins Schleudern bei dem Versuch, Jens Jäger (für historische Bildkunde einschlägig ausgewiesen) bei der Dekonstruktion epistemischer Sehepunkte des 19. Jahrhunderts - vulgo Humboldt und Ranke - mit Hilfe georgischer Portraitfotografie aus den Archiven der Weltbank angemessen zu begleiten (44). Am Ende jedoch erweisen sich seine grundlegenden Überlegungen zur historischen Bildforschung und ihrer Neuordnung als überaus anwendungsorientiert (selbst mit Blick auf die Lehre), benennt er Fragen nach dem Entstehungskontext und der medialen Verbreitung von Fotografie als zentral für die angemessene Analyse ihrer zeitgenössischen Wirkung, auch und vor allem im Kontext visueller politischer Kommunikation.
Was am Ende einen vordergründig disparat anmutenden Fundus bildsprachlicher Miniaturen in seinem Kern zusammenhält, erläutert die Herausgeberin überzeugend in der einführenden Skizze, die sich als grundlegende Kritik an einer vorrangig dem globalen Westen verpflichteten Historiografie der Bilder versteht: "As a technology photography was easily integrated into visual practices that had preceded it in all world regions"(9). Entsprechend vielfältig liest sich das Verzeichnis der Autorinnen zwischen Togo, Frankfurt und London, zwischen Anthropologie, Kosmopolitismus und Archivkunde. Das Jahr 1850 nimmt Michels dabei zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen zur globalen Reichweite professioneller Fotografie in ihren spezifischen Verflechtungen mit einer Geschichte kolonialer Expansion. "At no point was photography only the privilege of Europeans", resümiert sie lakonisch die Befunde (10).
Produktive Irritationen stellen sich nicht nur dort ein, wo die Autorinnen theoretisch ambitioniert den vertrauten Fragehorizont der an schriftlichen Quellen vorrangig geschulten Historikerin ikonografisch erweitern. Und nur kurzzeitig erzeugt Störungen im Lesefluss der Umstand, dass Annette Kuhn als Professorin für Filmkunde mit der gleichnamigen Pionierin Historischer Frauenforschung zwar den Namen, nicht jedoch die Forschungsinteressen teilt: Interdisziplinarität erweist sich auch hier als in besonderer Weise geeignet, fachspezifische Blindstellen zu identifizieren. Als erklärungsbedürftig erweist sich schließlich einmal mehr das ostentative Schweigen der historischen Disziplinen zu den einflussreichen Schriften des französischen Semiotikers Roland Barthes, deren Kenntnis in den Bildwissenschaften unausgesprochen als selbstverständlich vorausgesetzt wird, während die Geschichte diese - nicht ohne Herablassung - gerne im Genre des Essays verortet. [1]
In diesem Sinne untersucht Jürg Schneider als Historiker die Zirkulation 'afrikanischer' Fotografie - hier verstanden als von afrikanischen Fotografen angefertigte Bilder - seit ihren Anfängen in der Mitte des 19. Jahrhunderts und identifiziert in seinen Quellen spezifische Mobilitätsformen im Globalen Süden. An der Schnittstelle von kolonialer Expansion und Migrationsgeschichte verortet er den komplexen Transfer von Technik und Wissen über Fotografie - "the first truly global visual medium" (19) - zwischen Afrika und Europa wie auch die Berufsbiografien seiner Protagonisten in ihren Praktiken als Handlungsreisende: "It was common for photographers to advertise in local newspapers that they would be available for work for a given period, generally for several weeks, in a certain place" (22). Fotografie, so Schneider, war für den Aufbau transkontinentaler Kommunikationszusammenhänge durchgängig von zentraler Bedeutung, auch für die Dokumentation von Forschungsreisen, die in Afrika zugleich Erfahrungsräume für eine eigenständige Aneignung der Fotografie als Kulturtechnik eröffneten.
Die erinnerungs- und machtpolitische Dimension kolonialer Fotografie analysiert Kokou Azamede am Beispiel von Togo als Anthropologe auch im Dialog mit den Zeitzeugen. "An essential part of the country's colonial history is illustrated through photographs, which can be accessed online in German archives", benennt er eingangs den Ausgangspunkt seiner Überlegungen (57). Dabei identifiziert er die zeitgenössisch angefertigten, oftmals unhinterfragt bewahrten und weitergetragenen Bildunterschriften und Interpretamente in deutschen Staats- und Universitätsarchiven wie auch in historischen Lehrbüchern als vielfach ausschlaggebend für die erstaunliche Langlebigkeit kolonialer Deutungsangebote im kollektiven Gedächtnis. "Deconstruction of the imperial eye": Nicht als grundlegende Absage an den Gebrauch fotografischer Überreste aus diesen Jahren liest sich sein Beitrag folglich, wohl aber als Aufforderung, neue Lesarten und alternative Perspektiven vorzulegen und in der Folge die bekannten Bilder, auch koloniale Propagandafotografie, als Quellen einer afrikanischen Geschichte neu zu erschließen.
Hans Peter Hahn erinnert in diesem Zusammenhang an den Umstand, dass die große Zahl in kolonialen Kontexten erstellter Bildarchive erst seit wenigen Jahren überhaupt umfänglich bekannt ist. Als bemerkenswert parallel analysiert er den Aufschwung von Fotografie und imperialer Expansion, identifiziert in der Folge neue Märkte, Fotografen als Akteure und den Staat als Auftraggeber: "photographers were commissioned to document colonial infrastructures" (89). Dabei diskutiert Hahn den wissenschaftlichen Nutzen wie auch die spezifische Problematik kolonialer Bildarchive in frei zugänglichen online-Datenbanken, darunter das 'Deutsche Koloniale Bildarchiv' der Frankfurter Universitätsbibliothek. Die Frage nach der Standortgebundenheit des Fotografen bewertet auch er in diesem Zusammenhang als Ausgangspunkt jeder angemessen sensiblen Deutung des historischen Bildmaterials.
Als 'ambivalente Figur' charakterisiert Richard Kuba folglich den deutschen Afrikaforscher Leo Frobenius und dessen Frankfurter Sammlung, "a unique documentation of objects and customs, folk tales and myths, as well as images of everyday scenes, portraits, material culture, crafts and architecture" (109). Im Habitus und seinen Praktiken unzweifelhaft kolonial und paternalistisch, attestiert er Frobenius zugleich ein echtes Interesse an den afrikanischen Zusammenhängen und bewertet die im Kontext der Afrikareisen entstandenen Fotografien aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts grundsätzlich als wertvolle Quelle. Den umfangreichen Korpus diskutiert er dabei vergleichend und unter Rückgriff auf motivgleiche Zeichnungen im selben Bestand. Nachweislich habe Frobenius die landläufige Auffassung vom vermeintlich authentischeren Charakter fotografischer Bilder im Verlauf seiner Karriere zunehmend in Frage gestellt, zugleich die Modernisierung, Transformation, Umgestaltung und infrastrukturelle Erschließung afrikanischer Landschaften und Lebensweisen konsequent ausgeblendet: Als 'Heimat in Afrika' hat Jens Jäger dieses bewahrende Verfahren, die Suche nach dem vermeintlich Ursprünglichen und Typischen an anderer Stelle interpretiert. [2]
In einer übergeordneten Perspektive diskutiert Margrit Prussat schließlich das fotografische Bildarchiv in seiner Bedeutung für die geistes- und kulturwissenschaftliche Forschung der Gegenwart. Seit seinen Anfängen in der Mitte des 19. Jahrhunderts habe das fotografische Bild in wissenschaftlichen Diskursen und Praktiken unterschiedliche Funktionen übernommen: das Dokumentieren und Illustrieren, das Bewahren. Während jedoch der visuelle Notizblock als Verfahren heute grundsätzlich unumstritten sei, bleibe die angemessene archivalische Erschließung des überlieferten Bildmaterials - 'a huge visual legacy of 35-mm slides' (135) - als Herausforderung bestehen, zumal im Angesicht seiner sprunghaften Zunahme in jüngster Vergangenheit: "In reality, due to the long neglect of photographs as an adequate historical source material, there are items or whole collections within archives without any contextual information about their origin" (140f.). Überzeugend diskutiert Prussat Fragen der Nachnutzung visueller Daten und plädiert für einen umfassenden Einsatz digitaler Methoden der Erschließung.
'How History Enters Photography': Die grundsätzliche Frage nach interdisziplinärer Standortbestimmung erörtert die Kuratorin und Medienwissenschaftlerin Marie-Hélène Gutberlet am zeitgenössischen Werk 'Homeland' des südafrikanischen Fotografen Thabiso Sekgala und diskutiert die visuelle Verarbeitung einer Geschichte der Apartheid in ihrer erinnerungspolitischen Dimension. Dabei verweist sie nicht zuletzt auf Einfluss und Bedeutung seines erst kürzlich verstorbenen und jüngst in eindrucksvollen Retrospektiven umfänglich gewürdigten Mentors David Goldblatt für eine Geschichte der Fotografie in Südafrika in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Als 'visual document' definiert Gutberlet mit Foucault die untersuchten Bilder und betont, dass vielfach als ikonisch gewürdigte Zeugnisse südafrikanischer Befreiungskämpfe zugleich in repressiver Absicht in den Ermittlungsakten des Apartheidregimes Verwendung gefunden haben. Das Wissen um diese Vergangenheit, die Spuren der Gewalt und ihre Nachgeschichte sei den von Thabiso Sekgala überlieferten fotografischen Momentaufnahmen vom Alltag heute in den Vororten von Pretoria und Johannesburg vielfältig eingeschrieben.
Hochzeitsbilder als ein spezifisches Subgenre der Familienfotografie nimmt schließlich Jens Ruchatz zum Ausgangspunkt grundsätzlicher Überlegungen zum Spannungsverhältnis von sozialer Praxis und privater Erinnerung unter Bezugnahme auf kanonische Texte von Kuhn und Barthes. Gebrauch und Herstellung der Bilder analysiert Ruchatz als einen vordergründig subjektiven und hochkomplexen innerfamilialen Aushandlungsprozess, zugleich als die Verarbeitung und Umschreibung sozialer Normen und gesellschaftlicher Erwartungshaltungen ('social framing'). Während private Fotografien damit ihre Funktion als 'aide-mémoire' nur für die Familie im engeren Sinn erfüllten, transportierten insbesondere Hochzeitsbilder darüber hinaus vielfältige Informationen über die soziale Wirklichkeit, auch in ihrer Zeitgebundenheit, bezeugten sie dauerhaft ein 'once-in-a-lifetime event', das es zugleich im Familiengedächtnis zu bewahren gelte. "Indeed, the presence of a professional or semi-professional photographer, even if he is not perceivably interrupting the proceedings, has become an essential part of the ceremony without which a contemporary wedding would hardly be complete", so sein Fazit zur beständig wachsenden Bedeutung des Fotografen als Akteur eigenen Rechts (200).
Mit einem Fokus auf Europa auch die abschließenden Erkundungsgänge der Londoner Fotokünstlerin Sally Waterman durch das Familienalbum. Radikal subjektiv ihre Fragen an das private Bildmaterial als vermeintlich authentisches Zeugnis glücklicherer Tage und in der Gegenüberstellung mit den im Familiengedächtnis überlieferten Mythen, Geheimnissen und Sollbruchstellen der elterlichen Paarbeziehung: Trennung, Scheidung und Verrat. Dass sich der globale Anspruch im Titel des Sammelbandes mit den intimen Einsichten von Waterman in die britische Mittelstandsgesellschaft der 1970er Jahre illustriert findet, bleibt dem Schutzumschlug des Tagungsbandes am Ende als Widerspruch erhalten. In einer übergeordneten Perspektive jedoch verweist Watermans künstlerisches Werk gleichwohl auf die grundlegende methodische Herausforderung, die auch für Historiker darin besteht, spezifische Auslassungen und alternative Deutungen von Bildquellen und fotografischen Überresten immer mitzudenken, zu versprachlichen und damit möglicherweise auch das, was nicht zu sehen ist, dem Auge des Betrachters zu erschließen. [3]
Anmerkungen:
[1] Roland Barthes: Camera Lucida. Reflections on Photography, New York 1981, frz.11980.
[2] Jens Jäger: 'Heimat' in Afrika. Oder: die mediale Aneignung der Kolonien um 1900, in: zeitenblicke 7 (2016), URL: http://www.zeitenblicke.de/2008/2/jaeger/index_html.
[3] Exemplarisch in diesem Sinne für die Zeitgeschichte die Debatten um die Wehrmachtsausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung (HIS) seit den 1990er Jahren und im Dialog mit zivilgesellschaftlicher und medialer Öffentlichkeit, vgl. Christian Hartmann / Johannes Hürter / Ulrike Jureit (Hgg.): Verbrechen der Wehrmacht. Bilanz einer Debatte, München 2005.
Claudia Moisel