Hyun Jin Kim: Geopolitics in Late Antiquity. The Fate of Superpowers from China to Rome (= Routledge Studies in Ancient History), London / New York: Routledge 2019, VI + 129 S., ISBN 978-1-138-29255-0, GBP 115,00
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Mit Befremden legt man dieses Buch nach der Lektüre aus der Hand und fragt sich, ob man es möglicherweise schlicht falsch verstanden hat. Aber die Ausrede eines Missverständnisses trägt in diesem Fall nicht; denn allzu einfach ist das Argument. Es lautet im Kern: Wenn die USA ihre globale Hegemoniestellung behalten wollen, müssen sie ihre Aufmerksamkeit auf China konzentrieren. Das erforderliche "complete encirclement of China which disallows even [...] China's expansion into Central Asia" setze allerdings drei folgenreiche politische Maßnahmen voraus: 1. einen Abzug der meisten militärischen Ressourcen aus dem Nahen Osten und Europa, 2. eine Konzentration aller verfügbaren Mittel auf Ostasien sowie 3. eine Kooperation mit Russland. Einzig in Polen sollten sich noch amerikanische Streitkräfte in nennenswertem Umfang engagieren, um eine Annäherung zwischen Deutschland und Russland sowie eine Besetzung Polens durch eine der beiden Mächte (sic!) zu verhindern ("and prevent its takeover by either Russia or Germany", 102) - letzteres ein interessanter Einblick in die Wahrnehmung deutscher Außenpolitik außerhalb Europas. Zu diesen Erkenntnissen gelangt der Autor, indem er den Ansatz der "geopolitics" betreibt - konkret: Aus einer historischen Analyse spätantiker "superpowers" mit hegemonialer Stellung und ihres Umgangs mit Herausforderern ("challengers") werden politische Ratschläge für die aktuellen "superpowers" abgeleitet, wobei die USA dem Imperium Romanum entsprechen, das persische Sāsānidenreich als Äquivalent zu China gesehen und Russland bzw. der Sowjetunion die Rolle der Hunnen zugewiesen wird. Diese simple Übertragung spätantiker geopolitischer Verhältnisse (die dann auch noch wenig überzeugend entwickelt und dargestellt werden, s.u.), die anderthalb Jahrtausende historischer Distanz unkommentiert überbrückt und nicht über veränderte kulturelle, wirtschaftliche, mentale und nicht zuletzt auch geopolitische Rahmenbedingungen reflektiert, offenbart ein zutiefst unhistorisches Denken. Freilich geht aus der Monographie bis zum Ende ohnehin nicht hervor, ob sie überhaupt als eine historische verstanden werden soll; argumentiert hier vielleicht eher ein Politikwissenschaftler? Oder geht es um Politikberatung? Eine klare Positionierung erfolgt jedenfalls nicht.
Die Einleitung (1-18) hätte den geeigneten Ort für eine derartige Klarstellung geboten. Doch an ihrer statt wird man mit selektiven politikwissenschaftlichen Ansätzen zum Begriff der "hegemony" sowie zum Konzept der "power transition" konfrontiert und nimmt im Wesentlichen mit, dass hegemoniale Positionen nicht dauerhaft sein können, sondern Herausforderungen unterschiedlicher Art ausgesetzt sind; einer der Wege, die eigene Stellung zu erhalten, so der Autor, sei das "retrenchment", also die Beschränkung auf das Wesentliche. Das zweite Kapitel (19-40) zeichnet die geopolitische Situation in der Antike nach, indem das Auftreten der Xiongnu in Asien sowie die Ankunft der Hunnen in Europa und ihre Rolle als Herausforderer der Supermächte China, Rom und Persien beschrieben werden. Im dritten Abschnitt (41-84) wird die Reaktion Chinas, Roms und der Perser skizziert - China: umsichtiges "retrenchment", das Zeit verschaffte, um die eigenen Ressourcen zu bündeln und dann gezielt zurückzuschlagen und der Bedrohung durch die Xiongnu Herr zu werden; Rom: eine angeblich inkonsistente Zickzack-Politik, durch die die hunnische Bedrohung anwuchs und schließlich das Weströmische Reich zusammenbrach; Perser: katastrophale Niederlage und Unterwerfung durch die asiatischen Hunnen; das Sāsānidenreich habe nur deshalb überlebt, weil diese nicht an territorialem Zugewinn, sondern vorrangig an Tributen und formalen Unterwerfungsakten interessiert gewesen seien. All dies wird in der "Conclusion" (85-108) auf die Gegenwart übertragen, wobei zudem noch die Machtbildung der Mongolen und das Osmanische Reich als historische Exempla herangezogen werden, um daraus "geopolitisch" orientierte Handlungsanleitungen für China zu entwickeln und schließlich die eingangs vorgestellten politischen Ratschläge für die USA zu formulieren.
Man könnte es dabei belassen und das Buch als kuriosen konzeptuellen Versuch beiseitelegen, doch wird insbesondere im zweiten Kapitel in einer Weise ohne hinreichende empirische Grundlage spekuliert, werden vage Behauptungen aufgestellt (auf denen später weitreichende Schlussfolgerungen aufgesetzt werden) und schlichtweg falsche Sachverhalte dargelegt, dass dies nicht unkommentiert bleiben kann. So besteht mitnichten ein Forschungskonsens (vgl. 19: "the most recent research on the subject tends strongly to support [...]") darüber, dass eine Identität zwischen den zentralasiatischen Xiongnu und den späteren Hunnen besteht, und auch Kim selbst scheint sich dieser Tatsache bewusst zu sein, denn im Folgenden mäandriert seine Argumentation zurück zu der Aussage, dass die zentralasiatischen und europäischen Hunnen zumindest ihre "political origins" - was auch immer das sein soll - auf die Xiongnu zurückgeführt hätten (20). Aber auch dafür gibt es letztlich keinen Beleg, und die Möglichkeit, dass es sich bei der Bezeichnung 'Hunne' schlicht um einen in der eurasischen Steppe verbreiteten Prestigenamen gehandelt hat, wird nicht weiter diskutiert. Unscharf ist auch die nachfolgende Aussage "The Huns/Xiongnu and other Inner Asians were not nomads", da ihre Territorien ja klar definiert gewesen seien (20); es ist jedoch eines der typischen Kennzeichen des Nomadismus, sich auf fest bezeichneten Gebieten zu bewegen. Zu weit geht der Autor sodann, wenn er Ammians berühmten Hunnenexkurs (Amm. 31,2,1-11) kurzerhand als "ridiculous" abtut (25). Ohne Zweifel ist dieser Text weitgehend durch traditionelle Barbarenstereotype überformt und geprägt; doch hat die jüngere Forschung zeigen können, dass er durchaus authentisches Material über die Hunnen verarbeitet hat, etwa mit Blick auf ihre Kriegführung. Subtile Quellenkritik wäre hier das Mittel der Wahl gewesen anstatt pauschaler Verurteilung. Das gilt auch für Prokops Exkurs über die Hephthaliten, dessen Aussagen ohne die Benennung nachvollziehbarer Kriterien in "nonsense" und "noteworthy" untergliedert werden (34); "noteworthy" sei Prokops Behauptung, die Hephthaliten hätten eine politische Ordnung mit eigenen Gesetzen besessen (Prok. BP 1,3,5). Kim benötigt diese Aussage für seine eigene These, wonach die hunnischen Machtbildungen sich durch eine bereits avancierte Form von Staatlichkeit ausgezeichnet hätten (aus diesem Grund bezeichnet er wiederum Ammians Feststellung, die Hunnen seien nicht politisch organisiert gewesen, kurzerhand als "mythical account" [26]). Dass aber Prokop seinen Exkurs auf einem ebenso scharfen wie konstruierten Gegensatz zwischen europäischen und asiatischen Hunnen aufbaut, was den Hinweis auf die politeía énnomos suspekt macht, entgeht seiner Aufmerksamkeit.
Große Mühe bereitet es dem Verfasser zu belegen, dass die politischen Institutionen der Hunnen auf die Xiongnu zurückzuführen seien. Wiederum mäandriert der Argumentationsgang; die Rouran werden ohne erkennbaren Grund zwischengeschaltet (sollen sie als Vermittler gedient haben [was chronologisch nicht funktioniert] oder geht es hier schlicht um eine weitere Analogie?) (27f.). Jedenfalls wird die Schlussfolgerung "What we can see from these observations is that the Xiongnu political legacy had long survived them in the steppe region" (28) mitnichten argumentativ grundiert. Und es geht munter weiter: Der Historiograph Priskos, so Kim, habe festgehalten, dass Attila eine Streitmacht angeführt habe, "which no nation can withstand" (28); ein Blick in den Priskos-Text zeigt aber schnell, dass der Historiograph diese Aussage einem weströmischen Gesandten in einem (möglicherweise fiktionalen?) Gespräch in den Mund gelegt hat, was ihren historischen Wert erheblich relativiert (Prisk. fr. 11.2, Z. 618-619 Blockley). Der Mühe der erforderlichen Quellenkritik, die an diesem Punkt hätte einsetzen müssen, hat sich der Verfasser nicht unterzogen. Gleichermaßen fragwürdig bleibt die assoziative Gleichsetzung vermeintlicher politischer Funktionen bei Hunnen und Rouran. Warum soll "Onegesius [...] clearly the equivalent of the 'grand vizier'" bei den Rouran gewesen sein (29), was belegt die Behauptung, er "seems to have presided over this bureaucracy" (29)? Und noch einmal: Was haben die Rouran überhaupt mit den Xiongnu, auf die all dies zurückgeführt wird, zu tun? Ich kenne überdies keine einzige Quelle, die belegt oder auch nur andeuten würde, dass Attilas Sohn Ellak "his [= Attilas] co-ruler" im Sinne eines "dualism" gewesen sein soll (er wurde lediglich als Herrscher über den Teilverband der Akatziren eingesetzt) und dass es darunter "sub-kings ruling over lesser sub-divisions of the empire" gegeben haben soll (30). Auch die anderen Attila-Söhne Dengizich und Ernak haben nie als gemeinsame Könige im Westen und Osten geherrscht (30), sondern sich lediglich zu einer temporären Interessengemeinschaft zusammengefunden, und gänzlich abwegig ist die Behauptung, bei den hunnischen logádes habe es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um "the equivalent of the 24 governors of the left and right which we have seen among the Xiongnu" gehandelt (30). Das ist ebenso reine Fantasie wie die Annahme, die Hunnen hätten die Institution der "six horns" von den Xiongnu geerbt (31).
In ähnlicher Weise geht es im dritten Kapitel weiter - ich spreche nicht von der durchgängigen Rede von "Germanic tribes" (z.B. 44, 55, 69), die dem aktuellen Forschungsstand weit hinterherhinkt, oder von Geschmacklosigkeiten wie der Bezeichnung des 'Griechischen Feuers' als "the nuclear bomb of Middle Ages" (65). Weitaus gravierender sind wieder einmal die ungenauen Argumente und fehlgeleiteten Behauptungen und Schlussfolgerungen. So mag man noch darüber streiten, ob der hunnische Doppelangriff auf das Perserreich und den römischen Balkan 395 wirklich eine koordinierte Aktion war (so Kim 45) oder schlichtweg das Ergebnis einer zufälligen Koinzidenz. Wenn der Autor dann allerdings Uldin als einen von sechs hunnischen Unterkönigen mit spezieller Zuständigkeit für die westlichen Gebiete an der Donau beschreibt (45), so geht ihm einmal mehr die Fantasie durch. Nichts davon lässt sich durch die Überlieferung stützen. Auch über die angeblichen "good relations between Uldin and Stilicho" (47) schweigen sich die mir bekannten Quellen aus.
In der vieldiskutierten Frage nach den Gründen für die plötzliche Westwendung der Hunnen um 450 wählt Kim recht willkürlich aus dem Angebot, das die Überlieferung macht, aus: der Thronstreit zweier fränkischer Prinzen. Freilich ging es hier sicherlich noch nicht um "the Frankish succession" (52) [meine Hervorhebung], denn von einem einheitlichen Frankenreich kann zu diesem Zeitpunkt noch keine Rede sein. Und wieder wird munter fantasiert: Aetius soll sich die Feindschaft Attilas zugezogen haben, weil er Bleda unterstützt habe. Das mag so gewesen sein, aber Zeugnisse existieren dafür nicht. Eine alternative Rekonstruktion der Zusammenhänge hat der Rez. jetzt vorgelegt. [1] In Kims Rekonstruktion mutiert Aetius zum verdeckten Fürsprecher der Hunnen, weil er allein erfasst habe, dass nur ein Bündnis mit ihnen das Weströmische Reich würde bewahren können; aus diesem Grund habe er eine offene Schlacht vermieden, bis Attila vor Orléans stand (53). Die Quellen sagen freilich etwas anderes: Aetius benötigte die Zeit bis dahin, um ein Bündnis mit den Westgoten auszuhandeln; ohne dieses wäre er zu schwach für eine direkte Konfrontation gewesen. Die sonderbare These, dass eigentlich Attila die Schlacht auf den Katalaunischen Feldern gewonnen habe, hatte der Verfasser bereits in einer früheren Monographie zu den Hunnen entwickelt [2]; hier wird sie nur angedeutet, bleibt aber weiterhin unplausibel (53). Unzutreffend ist im Übrigen, dass Ostrom durch hunnische Angriffe so geschwächt war, dass es dem Westen angesichts Attilas Italienzuges nicht habe helfen können (53): Immerhin schickte Konstantinopel militärische Verstärkungen in den Westen, an deren Spitze sich dann sogleich Aetius stellte, und führte einen Entlastungsangriff auf hunnische Kerngebiete an der Donau durch (Hydat. Chron. 154 p. 27 Mommsen). Dass erst eine Tributzahlung durch Papst Leo I. die Hunnen zum Abzug aus Italien bewogen habe (53), ist zudem ein längst widerlegter Mythos.
Man könnte noch vieles anführen, etwa die Aufzählung vermeintlicher geopolitischer Parallelen zwischen Ostrom und den USA (55) oder die merkwürdige Analogsetzung der Kriegsbegründungen Justinians und George Bushs Jr. (58). Auch zur selektiven Literaturauswahl ließe sich einiges sagen.
Fazit: Ein merkwürdiges Buch, das im Ergebnis mehr oder minder offen einer America first-Politik das Wort redet und vermeintliche Argumente aus einer "geopolitisch" interpretierten Geschichte offeriert. Wir alle wissen allzu gut, wer angesichts eines solch wohlfeilen Angebots sogleich große Ohren bekommen wird.
Anmerkungen:
[1] M. Meier: Geschichte der Völkerwanderung. Europa, Asien und Afrika vom 3. bis zum 8. Jahrhundert n. Chr., München 2019, 448ff.
[2] H. J. Kim: The Huns, Rome and the Birth of Europe, Cambridge 2013, 76-80.
Mischa Meier