Azra Bikic / Laurence Cole / Matthias Egger u.a. (Hgg.): Schwere Zeiten. Das Tagebuch des Salzburger Gemischtwarenhändlers Alexander Haidenthaller aus dem Ersten Weltkrieg (= Schriftenreihe des Archivs der Stadt Salzburg; 50), Salzburg: Stadtarchiv und Statistik Salzburg 2018, 288 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-900213-39-8, EUR 23,10
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Der aus einem "Forschungsseminar" an der Universität Salzburg hervorgegangene Band präsentiert Auszüge aus den im Stadtarchiv Salzburg überlieferten Tagebüchern Alexander Haidenthallers (1868-1946), der in der 1935 in die Stadt Salzburg eingemeindeten Ortschaft Gnigl einen Gemischtwarenhandel führte und sich als Verfasser einer mehrbändigen Ortschronik in der Region einen Namen machte. Für die Publikation ausgewählt wurden die Aufzeichnungen vom 5. Juli 1914 bis zum 17. November 1918; es handelt sich also um ein Kriegstagebuch, das sich indes nicht - hiervor bewahrten den Verfasser sein Alter und seine Funktionen in der Gemeinde - aus Schützengrabenerfahrungen speist, sondern der Perspektive der "Heimatfront" in einer schlachtfeldfernen mittelgroßen Gemeinde im Land Salzburg verpflichtet ist. Haidenthaller, über dessen Motivation zur Führung eines Tagebuchs nur spekuliert werden kann, griff regelmäßig, aber nicht täglich zur Feder: Mitunter finden sich in den Aufzeichnungen mehrwöchige Unterbrechungen, die der Verfasser aber mit summarischen Einträgen zu überbrücken versuchte. Für die einzelnen Einträge nahm sich Haidenthaller jeweils offenkundig viel Zeit, denn etliche erstrecken sich über mehrere Druckseiten. Auch der Duktus der Einträge deutet darauf hin, dass er sein Werk ernst nahm, denn Haidenthaller tritt häufig nicht nur als Chronist, sondern auch als Deuter des Zeitgeschehens auf.
In der Deutung des Zeitgeschehens zeigt sich Haidenthaller als typischer Vertreter des konservativen Mainstreams. Die Ermordung des österreichischen Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajevo kommentiert er mit Empörung, und während der Julikrise 1914 sieht er mit Bewunderung zu Kaiser Franz Josef auf, der "fest zum Beispiele Seiner Völker auf Seinen Posten" steht, "als Lehen für alle Menschen wie man alle weltlichen Uebel mit Geduld ertragen kann" (65). Die Schuld an der Eskalation des Konflikts schreibt er "Rußlands Hinterhaltspolitik" (67) zu, die eine schwierige Situation heraufbeschworen habe: "Ja sicher wär uns der Sieg, hätten wir wol nur an 1 bis 2 Fronten zu kämpfen, aber die Lage ist ernster. Ja man muß es fast eine abgekarttete Sache nennen welche uns nun vorbehalten ist" (71). Das Kriegsglück des Frühjahrs 1915 ließ ihn hoffen, dass "nun bald ein gesunder dauernder Friede einkehren" möge, "der in jedes Haus u Familie wieder erneuertes Schaffen bringt und uns für alle Zukunft nach außen erneuerten Respekt sichert" (98). Im Juni 1915 wagt Haidenthaller sogar einen Ausblick auf die Nachkriegszeit, die vor allem einen Aufstieg des deutschen Verbündeten bringen werde: Frankreich werde unter Inkaufnahme innerer Unruhen wie 1870/71 Kriegsentschädigung an Deutschland zu leisten haben, und Belgien werde unter deutsche Souveränität geraten, "falls es sich nicht mit hohen Summen herauszukaufen vermag". Anders als das Deutsche Reich, das "mit Ruhe seine Arbeit" werde beginnen können, werde in Österreich jedoch "nach dem Siege unter den verschiedenen Nationen eine Eifersüchtelei entstehen, welche wahrscheinlich zu Auseinandersetzungen führen kann, wenn es nicht eine eiserne Hand versteht, vorzeitig dieser Gefahr durch eine strickte Lösung diesen zu entgegnen" (109).
Die Siegesgewissheit verflüchtigt sich im weiteren Gang des Jahres 1915, und ins Zentrum der Tagebucheinträge rücken seit 1916 die Alltagsnöte: Nachrichten von Gefallenen aus dem Bekanntenkreis, Krankheitsfälle in der Familie und vor allem die Versorgungsschwierigkeiten, die Haidenthaller mit der Einführung von Lebensmittelkarten seinen Beruf als Händler erschwerten: Die zunehmenden "Keilereien" zwischen Kaufmann und Käufern, die "mit der Karte in der Hand trotzdem das vorgeschriebene Quantum nicht erhalten" konnten, brachten "viel Verdrießlichkeiten in das Familienleben nach sich, so daß man es fast vorziehen müßte überhaupt keine Lebensmittel im Handel zu halten" (135). Haidenthallers Reflektionen über das große Ganze werden fatalistisch, etwa wenn er den "Geist der Technik" für die Konkurrenz der Völker verantwortlich macht, "dabei sich die gegenseitig übervorteilten Völker geschädigt fühlen und Neid und Mißtrauen nun das Lied des gegenwärtigen traurigen Schauspiels singt" (183). Auch der in der russischen Revolution sichtbar gewordenen Durchbruch des "demokratischen Geistes", den er für ein Signum der Epoche hielt, ließ Haidenthallers Skepsis wachsen, da die Weltgeschichte bewiesen habe, dass "Volks Regierungen von unten hinauf nie von langer Dauer gewesen" seien (214), mithin also nur Zerstörung zu erwarten sei. Diese sah er auch für Österreich im Sommer 1918 bevorstehen: "Die Zertrümmerung resp. Zerstückelung unserer Monarchie steuert schon ihrem Ziele zu wenn es einer Regierung nicht gelingt die Deutschen u. Slaven hierin noch zu verkörpern. Aber dieser Arbeit wird jede Regierung unterliegen" (225).
Haidenthallers zeitgeschichtliche Reflektionen sind, und dies macht die Lektüre seines Tagebuches streckenweise zu einem mühevollen Unterfangen, mit den mitgeteilten engeren lebensweltlichen Erfahrungen kaum verbunden, was besonders deutlich auf den Schlussseiten des Buches hervortritt. Dort schildert er Anfang November 1918 den Grippetod eines Neffen in italienischer Kampfstellung und die Sorgen der Nachbarn um ihre im Feld stehenden beziehungsweise in Gefangenschaft befindlichen Söhne, schweigt dann für einige Tage, um am 10. und 12. November darüber zu räsonieren, wie die Monarchen in "fast ganz Europa dem republikanischen Geiste" weichen mussten und wie mit "einer Wucht sondergleichen [...] nun diese neue Zeit in der Staatsordnung" eingetreten war, die in den "Händen der Sozialdemokratie liege" (241). Wie sich dieser epochale Umbruch in Gnigl und in Salzburg vollzog, erwähnt Haidenthaller mit keinem einzigen Wort. Wo sich die Leserin oder der Leser vielleicht einen Zeitzeugenbericht wünschte, muss sie oder er also mit den Ausführungen eines Amateurzeithistorikers Vorlieb nehmen, den der Umbruch indes offenkundig persönlich überforderte: Den Schluss des Bandes nämlich markiert ein in das Tagebuch eingelegter Zettel vom 28. November 1918 mit der Mitteilung seines Hausarztes, dass Haidenthaller "an hochgradiger Nervenerregung Neurasthenie, mit Herzalterationen u. Asthma artigen Anfällen" leide; "zur Besserung dieses Zustandes" sei "unbedingte Ruhe u. Schonung, besonders in geistiger Beziehung geboten" (243).
Der im Druck aufwendig gestaltete und mit zahlreichen Abbildungen versehene Band erschließt Haidenthallers Aufzeichnungen durch eine sachkundige Einleitung und durch einen Anmerkungsapparat, der sprachliche Eigenarten der Zeit und des Verfassers erhellt und die lokalen und familiären Personenkonstellationen nachvollziehbar macht. Er erweitert das Genre des Kriegstagebuchs um ein weiteres Exemplar, das - so steht zu vermuten - vor allem in lokal- und regionalgeschichtlichen Kontexten Beachtung finden wird. Für ein darüber hinaus wichtiges Zeugnis individueller Wahrnehmung der epochalen Zäsur der Jahre 1914 bis 1918 wird man das Tagebuch des Gemischtwarenhändlers und ambitionierten, aber doch mitunter oberlehrerhaft auftretenden Zeitendeuters nicht unbedingt halten müssen.
Frank Engehausen