Eva Labouvie (Hg.): Glaube und Geschlecht - Gender Reformation, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2019, 387 S., 38 Abb., ISBN 978-3-412-51248-4, EUR 60,00
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Frauen- und Geschlechterthemen spielten im Kontext der "Luther-Dekade" 2008-2017 und des Reformationsjubiläums 2017 eine untergeordnete Rolle. In Magdeburg fand jedoch im Juni 2017 ein Kongress statt, der sich genau dieser Thematik zuwandte. Der Ertrag wurde nur ein gutes Jahr später als Sammelband vorgelegt.
Fünfzehn gehaltvolle Beiträge, verfasst überwiegend von Frauen aus den Disziplinen Geschichtswissenschaft und Theologie, aber auch Soziologie, Kultur-, Rechts- und Religionswissenschaft, beleuchten ein breites, teilweise innovatives Themenspektrum. Dabei geht es nicht nur um die Reformation im engeren Sinn, sondern, worauf der Untertitel des Bandes, englisch gelesen, hinweist, auch zu Reformen in späteren Epochen und Bewegungen (Pietismus) und in der Gegenwart.
Natürlich ist nicht immer alles neu, wenn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Beiträge zu Tagungen und Sammelbänden liefern. Keineswegs werden nur "weitgehend unerforschte Aspekte der Reformation" (11) thematisiert, wie in einem einleitenden Grußwort (Jens Strackeljan) zu lesen ist. Die meisten Autorinnen und Autoren bewegen sich im Horizont dessen, was sie bereits in ihren wissenschaftlichen Qualifikationsarbeiten und anderen Monografien dargelegt haben. Aber der Sammelband bietet doch einen Zugriff auf viele relevante und interessante Themenaspekte gleichzeitig, darunter klassische Themen wie Luthers Eheverständnis und die reformatorischen Flugschriftenautorinnen, aber auch neuere, bislang weniger beachtete Themen wie das Männerbild der Reformation. Wie die Luther-Dekade und das Reformationsjubiläum insgesamt, so ist allerdings auch dieser Band sehr auf Deutschland, sehr auf Wittenberg, sehr auf Luther konzentriert.
Die Herausgeberin selbst, Eva Labouvie, gibt in ihrer "Einführung" (13-34) einen schönen Überblick nicht nur einfach über die verschiedenen Aufsätze, sondern auch über deren Ertrag für die Forschung und ordnet sie in die Forschungsgeschichte ein. Die Einführung liest sich wie eine gelungene Rezension des Bandes und gibt Anstöße für weitergehende Forschungen.
Einen grundlegenden Abriss der Thematik liefert Heide Wunder, die mit ihren 1986 beginnenden Publikationen selbst zu den Pionierinnen der deutschen Frauen- und Geschlechtergeschichte zählt. Sie billigt der Reformation die "Erneuerung von Glaube und Kirche" zu (50) und konstatiert die "aktive [...] Teilnahme von Frauen aus allen Ständen insbesondere in der ersten Phase der Reformation" (51). Sie weist aber auch auf die "uneingelösten Gleichheitsversprechen" hin (71) und illustriert dies an einer Frau des 19. Jahrhunderts, der Pfarrerstochter Henriette Breymann. Die wirkliche kirchliche Gleichberechtigung der Frau wurde bis weit in das 20. Jahrhundert hinein durch "kirchliche Geschlechterkonstruktionen und politische Ordnungsvorstellungen" verhindert (73). Dass sie mit dem Gedanken des Priestertums aller Gläubigen in der Reformation des 16. Jahrhunderts schon angelegt war, ist freilich eine Tatsache.
Unter den Beiträgen zu Spezialthemen ist Heiner Lücks juristische Beleuchtung von Luthers Testament und dessen "Rechtswidrigkeit" (175) besonders originell. Luther hatte dieses Testament 1542 zugunsten seiner Ehefrau aufgesetzt. Er bestimmte sie darin zu seiner Alleinerbin und übertrug ihr die Vormundschaft über die Kinder. Letzteres wurde vom Kurfürsten nach Luthers Tod nicht bewilligt, da es den Gesetzen seines Landes widersprach. Lück weist am Ende seiner rechtsgeschichtlichen Studie darauf hin, dass in der BRD (anders als in der DDR) ledigen Müttern noch bis 1998 (!) ein Amtspfleger zugewiesen wurde.
Cornelia Schlarb und Kerstin Söderblom machen mit den geschichtlichen Entwicklungen und der aktuellen Situation in evangelischen Kirchen bekannt, Margit Eckholt beleuchtet die aktuelle Diskussion in der katholischen Kirche aus systematisch-theologischer Perspektive.
Birgit Heller nimmt die Weltreligionen geschichtlich und aktuell vergleichend in den Blick. Zuzustimmen ist ihrer Diagnose, dass in allen Weltreligionen innovative Impulse der Anfangszeit in der Frauen- und Geschlechterfrage später nicht weiterverfolgt und Frauen "in untergeordnete Rollen zurückgedrängt" wurden (327). Allerdings fehlt in ihrer Analyse ein meines Erachtens entscheidender Gesichtspunkt, der das Christentum durch seine ganze Geschichte hindurch und auch heute noch deutlich vom Judentum und vom Islam unterscheidet: Im Christentum in allen seinen Spielarten waren und sind Frauen als gottesdienstliche Subjekte immer völlig gleichberechtigt gewesen. Gottesdienst war nie "Männersache", wie es in Judentum und Islam, abgesehen von Reformbewegungen, noch heute ist.
Zur Frauen- und Geschlechtergeschichte im Kontext der Reformation wurde in den letzten Jahren viel geforscht. Nach Roland H. Baintons Pionierarbeit "Frauen der Reformation", in den USA 1971, in Deutschland erst 1995 erschienen, brachte aus meiner Sicht das Katharina-von-Bora-Jubiläum 1999 den Durchbruch. Seither wurde erforscht, was erforschbar ist, und sehr viel zur Thematik publiziert. Dass viele Fragen "noch einer angemessenen Berücksichtigung durch die Forschung [harren]" (32), ist meines Erachtens nicht richtig. Richtig ist, dass vieles, was interessant wäre, leider nicht erforschbar ist, mangels Quellen. Der einzige Bereich, in dem es tatsächlich noch bedauerliche Defizite gibt, ist die Zurverfügungstellung interessanter Texte für ein breiteres Publikum. Während die Texte aller großen Reformatoren in vielfältiger Weise in modernen, leicht lesbaren Ausgaben zur Verfügung stehen, gibt es die auch im Sammelband vielfach behandelten Frauentexte der Reformationszeit nur in alten Originaldrucken (zum Beispiel Ursula Weyda) oder schwer lesbaren wissenschaftlichen Editionen (zum Beispiel Katharina Zell), aber nicht in modernem Deutsch. Mit Argula von Grumbachs erster Flugschrift in modernem Deutsch wurde allerdings nunmehr, 2020 ein Anfang gemacht. [1]
Der Band ist - abgesehen von einem ärgerlichen Druckfehler gleich zu Beginn des Vorworts (9) - sorgfältig und schön gestaltet, mit zahlreichen Bildern und sogar siebzehn Farbtafeln ausgestattet. Für alle, die an verwandten Themen arbeiten, hilfreich ist auch die umfassende Bibliografie, in der es nur wenige wesentliche Lücken gibt. Zu bedauern ist allerdings, dass auf ein Personenregister verzichtet wurde und somit die personenbezogenen Schätze, die der Band vielfach bietet, vom Leser und Benutzer nicht einfach und leicht gehoben werden können.
Anmerkung:
[1] Martin H. Jung / Anne D. Turck (Bearb.): Argula von Grumbachs Flugschrift an die Universität Ingolstadt (1523) in heutigem Deutsch. Ein (erster) Versuch, in: "Erinnern, was vergessen ist". Beiträge zur Kirchen-, Frömmigkeits- und Gendergeschichte. Festschrift für Ruth Albrecht, hgg. von Rainer Hering / Manfred Jakubowski-Tiessen (= Schriften des Vereins für Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte; Bd. 64), Husum 2020, 180-194.
Martin H. Jung