Richard Smith (ed.): Britain and the Revolutions in Eastern Europe, 1989. Documents on British Policy Overseas, Series III, Volume XII, London / New York: Routledge 2020, LII + 404 S., ISBN 978-1-138-60958-7, GBP 120,00
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Am 12. Februar 1989 traf die britische Premierministerin Margaret Thatcher mit dem Außenminister der neuen US-Administration James Baker zusammen. Dieser regte Abmachungen mit der Sowjetunion, die unter Gorbatschow keine Vorherrschaft über die Ostblockstaaten mehr beanspruchte, an. Darin könne man größere politische und wirtschaftliche Freiheiten für Osteuropa sichern und als Gegenleistung Moskau Sicherheitsgarantien geben. Nach einigem Nachdenken notierte ihr einflussreicher Privatsekretär Powell (Nr. 17) am 25. Februar, Thatcher habe Probleme mit einer solchen expliziten Anerkennung des sowjetischen Empire; darüber hinaus müsse man Sorgen über eine nur bilaterale Verständigung der Supermächte haben. In eben diesen Tagen machte man sich im Foreign and Commonwealth Office (FCO) Gedanken über die möglichen Folgen eines Falls der Berliner Mauer (Nr. 22), sah riesige Fluchtbewegungen, eine Destabilisierung der DDR, damit auch der BRD und des Westens insgesamt, ja auch Gefahren für die Stellung Gorbatschows in der Sowjetunion. Spekulationen über mögliche Strategien gingen dahin, man könne vielleicht größere Reisefreiheiten für die DDR erreichen, wenn die BRD und die westlichen Staaten auf die Wiedervereinigung formell verzichteten. Wie bekannt, kam es dann doch alles ganz anders.
Dieser britische Editionsband versammelt insgesamt 216 Dokumente zu Osteuropa, ganz auf das Kalenderjahr 1989 beschränkt. Das Gebiet umfasst Polen, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, die CSSR und die DDR. Überraschend sind auch die baltischen Staaten (damals ja Sowjetrepubliken) eingeschlossen, wohl deswegen, weil Großbritannien deren Inkorporierung in die Sowjetunion nie anerkannt hatte. Die im Detail häufig recht spannenden und erfrischend salopp formulierten Dokumente machen im Ablauf der sich beschleunigenden Reformen im Laufe des Jahres deutlich: Polen und Ungarn waren die Favoriten und fanden politische wie wirtschaftliche Unterstützung, um den von innen kommenden Reformprozess zu sichern. Vor allem Polen bot große Chancen trotz fast ausweglos erscheinender wirtschaftlicher Probleme ("deeply moved, but not filled with hope", Waldegrave, Nr. 58, 18.5.), die Transformation zur ersten frei gewählten Regierung Mazowiecki wurde in Whitehall behutsam begleitet und begrüßt. Ähnliches galt für Ungarn, das kleiner, für die Sowjetunion nicht so wichtig und wirtschaftlich stabiler war. Bulgarien drängte gleichfalls auf britischen Beistand, doch verschloss man sich in London sowohl bulgarischen Hoffnungen auf Wirtschaftshilfen als auch dem Ansinnen eines Besuchs der Premierministerin, um ein unreformiertes System nicht zu stabilisieren (z. B. Nr. 21, 57). Über die Ceauşescu-Diktatur in Rumänien gab es kaum freundliche Worte. Am ambivalentesten war die Beobachtung der Prager Entwicklungen. Über die Dilemmata der DDR wurde im oben zitierten Brainstorming fast alles gesagt. Die britische Regierung strebte insgesamt einen "peaceful change" (Nr. 37) an - bezeichnenderweise fiel hier also derselbe Begriff, den ihre Vorläufer in der Zeit vor 1939 auch im Umgang mit NS-Deutschland bevorzugten -, den London aber teils allein, teils im westlichen Bündnis nur sehr indirekt zu beeinflussen vermochte.
Die britischen Dokumente zeichnen sich durch schon im Original enthaltene digestartige knappe Zusammenfassungen von Berichten aus, deren Langfassungen im Umfang nicht ausarteten. Die Handschrift und Stil einzelner Diplomaten vor Ort oder in London ist oft erfrischend zu erkennen. Kabinettstückchen sind zusammenfassende Berichte von Diplomaten über ihre Gastländer (Nr. 79 aus Prag, Nr. 91 aus Budapest und Nr. 106 aus Sofia), die fast feuilletonistische Länderanalysen, aber mit Tiefgang liefern. Wichtig war in London vor allem ein Planungsstab, der im März ausführliche Seminare im kleinen Kreis auch mit Externen abhielt (Nr. 40). William Waldegrave, Minister of State for Foreign and Commonwealth Affairs (vulgo Staatssekretär) tat sich hier und im Folgenden mit Analysen auch bei Osteuropa-Besuchen hervor. In Sachen DDR fällt ins Auge, dass ein einzelner sensationeller und öffentlicher Vorgang in Berlin mit fünf Dokumenten bedacht wird: Ein DDR-Flüchtling, Martin Notev, erreichte schwimmend in der Spree auf Höhe des Reichstags die westliche (britische) Seite, wurde aber von DDR-Booten zurückgezerrt. Nach Interventionen der Briten wurde der in der DDR inzwischen verurteilte Mann wenige Monate später freigelassen (Nr. 13f., 18, 76, 94). Ist es nicht ein wenig übertrieben, wenn zum Schluss berichtet wird, dass der britische Militärvertreter den Geretteten mit einer Flasche Champagner im Aufnahmelager Marienfelde begrüßte (und an der Spree unter sowjetischem Protest Leitern für künftige Fälle angebracht wurden)? Interessanter ist es, dass in der zweiten Jahreshälfte sowjetische (Militär-)Vertreter in Berlin gegenüber ihren westlichen Partnern mit Rücksicht auf Honecker betonten, nur im Rahmen des Vier-Mächte-Abkommens von 1971 reden zu können, nicht aber als genuine Siegermacht von 1945.
Diese Edition "Osteuropa" ist in den Gesamtkontext der britischen Aktenedition Documents on British Policy Overseas (DBPO) zu der Zeit ab 1945 zu stellen. Diese startete im internationalen Vergleich spät, 1984 mit Potsdam 1945 und ließ schnell insgesamt zehn thematisch geprägte Bände folgen (sektoral gegliedert wie auch die US-Aktenedition; Franzosen, Deutsche, Italiener usf. bevorzugen flächendeckende Jahresbände); dann kam ebenfalls für Schlüsselereignisse eine zweite Serie ab 1950 hinzu, die nach vier Bänden aufhörte. Gleichsam als Befreiungsschlag begann ab 1997 eine Serie III ab 1960, in der in 23 Jahren seither 12 Bände vorgelegt wurden. Auch hier wurden zunächst anscheinend zentrale Ereignisse des Ost-West-Konflikts thematisiert, doch dann sprangen die Bände von Korea über Südafrika und Südeuropa anscheinend zeitlich und geographisch regellos.
Der hier vorgestellte Band muss im Zusammenhang mit Serie III, Bd. VII, German Unification 1989/90 (241 Dokumente) gelesen werden, ein Band, der einleuchtend parallel zu anderen nationalen Bänden 2009 zum 20. Jahrestag des Mauerfalls erschien; dieser umfasste im Kern auch den weltpolitischen Rahmen für das Jahr 1989, reichte aber bis November 1990. Bd. VI, Berlin in the Cold War, 1948-1990 erschien parallel dazu, umfasste 42 Jahre und 509 Dokumente. Originellerweise wurden im Berlin-Band die Dokumente der Printausgabe nur als Mikrofiche beigefügt, eine Publikationsart, die sich insgesamt nicht gehalten hat. Die Ratio einer solchen Springprozession bei der Publikation der Akten erschließt sich wohl am besten, wenn man annimmt, dass die wiederholt genannte 30-Jahresfrist der Freigabe zentral geworden ist.
Die britische Aktenedition hat knappste Regesten, ein Register und ein Abkürzungsverzeichnis - wie üblich und nützlich; doch sie zeichnet sich auch durch Besonderheiten aus. Der Bearbeiter, Richard Smith vom FCO, liefert eine 15-seitige Einleitung, in der nicht nur der allgemein bekannte Zeitkontext gleichsam für Laien rekonstruiert wird, sondern auch ein - doch recht subjektiver - Eindruck von Highlights der Edition (wie es etwa die französischen Editionen auch tun) gegeben wird. Recht nutzlos sind einleitend zehn Seiten einzeilige Biographien der vorkommenden und fett gedruckten Namen; das kann man leicht im Register unterbringen, in dem jede berufliche Zuordnung von Namen fehlt. Die Dokumente stammen ganz überwiegend aus dem FCO, aber es gibt auch Auszüge aus Kabinettsprotokollen und Hinweise auf Online-Dokumente auf der entsprechenden Webseite der Margaret Thatcher Foundation in den Anmerkungen. Da fast immer nur Personen namentlich an andere Personen schreiben, fehlt die Zuordnung zu ihrer Rolle und Bedeutung im Ministerium. Ein Organigramm wäre da sehr nützlich gewesen.
Die meisten Dokumente verdienen hohe Aufmerksamkeit und sind innovativ. Schilderungen über die Festlichkeiten zum 20. Jahrestag der Selbstverbrennung Jan Palachs, der Exhumierung und Umbettung von Imre Nagy oder der diversen Runden Tische in Polen und Ungarn bieten dagegen kaum mehr, als die Tagespresse damals schrieb. Die Anmerkungen selbst sind äußerst sparsam gehalten und lassen viele Zusammenhänge oder Anspielungen der Dokumente rätselhaft (z. B. Nr. 62, 89). Da hätte man sich wesentlich mehr gewünscht. Ausführungen etwa zur Konrad-Adenauer-Stiftung (81) oder der Berliner Kommandatura im Jahr 1989 sind zumindest missverständlich. Zu erwähnen ist schließlich, dass die Edition über das Portal Proquest auch elektronisch vertrieben wird.
Jost Dülffer