Mischa Meier: Geschichte der Völkerwanderung. Europa, Asien und Afrika vom 3. bis zum 8. Jahrhundert n.Chr. (= Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung), München: C.H.Beck 2019, 1532 S., 37 Kt., 40 s/w-Abb., ISBN 978-3-406-73959-0, EUR 58,00
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Seit Ernst Stein (1891-1945) im Jahre 1928 hat sich niemand an eine deutschsprachige Gesamtdarstellung der Spätantike und des frühen Mittelalters gewagt. [1] Nun liegt mit Mischa Meiers "Völkerwanderung" eine chronologisch bis in das 8. Jahrhundert, geographisch und thematisch deutlich weiter ausgreifende Geschichtserzählung vor, die den frühmittelalterlichen lateinischen Westen mit Nordafrika, das fortbestehende Ostrom wie auch die sich formierende islamische Welt konsequent als poströmische Kulturräume begreift. Entlang der gedanklichen Leitmotive einer "Liturgisierung" und "Militarisierung" der Gesellschaften zwischen Britannien und Mesopotamien hat Meier in 12 Kapiteln auf 1104 Seiten ein neues Standardwerk auf der Höhe unserer Zeit geschrieben.
Die äußerst vielfältige historische, archäologische und theologische Forschung mit ihren Kontroversen, Problemen und Schwierigkeiten ist in einem 500-seitigen kritischen Apparat in bemerkenswerter Breite und Schärfe abgebildet. Die Kombination aus einem angenehm zu lesenden erzählenden Teil mit diesem ausführlichen und qualitätsvollen Apparat wird das Buch für längere Zeit zu einem unverzichtbaren Ausgangspunkt für jede Beschäftigung mit Spätantike und Frühmittelalter machen.
Was das historische Phänomen, ja selbst den Begriff der Völkerwanderung ausmacht, ist in der Forschung nach wie vor umstritten. Deshalb widmet Meier das umfangreiche erste Kapitel (15-123) seines Buches den vielen "implizierten Prämissen" (116) des Problems, also etwa der Frage, ob tatsächlich "Völker" wanderten und den kontroversiellen Debatten über "Untergang" oder "Transformation" der römischen Welt. Der in der deutschsprachigen Forschung übliche Terminus "Völkerwanderung" hat zwar eine mehrhundertjährige Geschichte, litt aber von Anfang an unter einer gewissen Unschärfe, was dazu führte, dass er zunehmend mit Deutungen und Wertungen überladen wurde. In Folge dessen ist man sich in der deutschsprachigen Forschung nicht einig, ob der Begriff nun ein historisches Phänomen der Migration, die Epoche zwischen dem letzten Viertel des 4. und dem 6. Jahrhundert n. Chr. (Schlacht von Adrianopel im Jahr 378 bis zur Ankunft der Langobarden in Italien 568 als 'klassische Definition') oder gar den gesamten Zeitraum des Übergangs von der Spätantike zum frühem Mittelalter bezeichnen soll. Außerhalb des deutschsprachigen Raums bedient man sich einer anderen Terminologie und spricht von "barbarischen Invasionen", womit allerdings der Eindruck erweckt wird, die bestimmenden Tendenzen der Epoche seien allein durch eine - begrifflich negativ konnotierte - Peripherie grundgelegt gewesen.
Nachteil beider Konzepte ist auch - worauf Meier ausdrücklich hinweist -, dass wichtige historische Räume und Prozesse außer Betracht bleiben. Denn von solchen 'klassischen Definitionen' ausgeschlossen sind die Etablierung des Bulgaren- und Awarenreichs sowie die damit wohl zusammenhängende Expansion der Slawen und das Entstehen der islamischen Welt, ebenso wie ein kontingentes Verständnis des fortbestehenden Ostreichs. (116) Alle 'Völkerwanderungsgeschichten' bezogen bisher die römische Welt lediglich mehr oder weniger ein, alle boten eine Geschichte der Alemannen, Angeln und Sachsen, Burgunden, Franken, Ost- und Westgoten, Vandalen und Langobarden. Dieses enge Korsett ist mit Meiers Buch nun jedenfalls überwunden.
Was den Duktus des Werkes angeht, bricht Meier mit überkommenen, nur scheinbar klaren Erzähltraditionen, indem er konsequent sowohl regional- wie auch reichsgeschichtlich erzählt und mithin aus einer doppelten römischen Perspektive auf die komplexen Transformationsprozesse in den fraglichen Jahrhunderten blickt. Das ist - so einfach der Gedanke aus althistorischer Perspektive auch scheinen mag - der methodisch wichtigste Schritt, den das Buch vollzieht.
Inhaltlich wird das Werk vor allem durch die Erkenntnisse der jüngeren Forschung getragen. Folgerichtig ist für Meier "die 'Völkerwanderung' keine selbständige Erscheinung im Sinne eines autonomen Geschehniszusammenhanges (...), sondern [muss] ihrerseits in den übergreifenden Kontext der weithin auch von internen Faktoren geprägten Transformation des spätrömischen Reiches und der umliegenden Nachbargesellschaften eingebettet werden." (116) Als "Testsonde" (119) versteht er diese Problematik, die geeignet ist, etwa anhand der unterschiedlichen Rolle von Barbaren in den beiden Reichshälften ein schärferes Verständnis der Entwicklung der poströmischen Welt im Westen und der byzantinischen im Osten zu erlangen. Dass auch die immense Bedeutung der Religion für das Politische herausgearbeitet wird, ist Meiers erstmals 2003 vorgestellter These einer fortschreitenden Liturgisierung geschuldet. Denn auch die arabische Expansion seit Mitte der 630er Jahre lässt sich innerhalb eines solchen Rahmens beschreiben (1035-1088).
Selbst- und Fremdidentifikationen, sowohl der Römer und Sassaniden als auch der so genannten Barbarenverbände (inklusive der berberischen und arabischen Gruppen), waren dynamisch und wandelbar (51-116, 766-772). Militärverbände, die auf Reichsboden Provinzen und Diözesen übernahmen und diese oft mit einer fortdauernden römischen lokalen Verwaltung neu organisierten, hatten in der Regel wenig mit jenen 'Völkern' zu tun, die kaiserzeitliche Ethnographen östlich des Rheins, nördlich der Donau und an den östlichen wie südlichen Wüstengrenzen erwähnten. Wanderungsnarrative waren jedoch stets eine beliebte, weil einfache, Erklärung für historischen Wandel. Dies gilt für die Spätantike und das frühe Mittelalter ebenso wie für die moderne Historiographie.
Gleichzeitig änderte sich auch die Eigenwahrnehmung der Römer in einem christlichen Imperium. Eine der grundlegenden Voraussetzungen für das Verständnis der Epoche ist die korrekte Interpretation der Unterschiede zwischen einer programmatisch fortbestehenden, aber regionalisierten romanitas im Westen (aber wie 'römisch' war die Kirche des Westens eigentlich?) und der Kontinuität des Kaiserreichs im Osten. Bereits im 6. Jahrhundert war das merowingische Gallien weit entfernt vom oströmischen Kleinasien; das ostgotische Italien erschien als eine andere Welt als der syrische Raum.
Meier bietet hier als Erklärungshorizonte zunächst den allmählichen Wegfall des gemeinsamen imperialen Rahmens. In der Folge kam es trotz der nominellen Klammer der romanitas zu einer "allmählichen Verwandlung der politischen, gesellschaftlichen sowie auch der religiös-kulturellen Ordnung" im lateinischen Westen wie im griechischen Osten, und zwar durch "beschleunigte Transformationsschübe, die sich auf unterschiedlichen Ebenen im späteren 5., im 6. und im 7. Jahrhundert" greifen lassen. (117) Zudem war mit der islamischen Welt unter dem frühen Kalifat der Umayyaden, das seine Grenzen bis zum Indus und im Westen bis zur Iberischen Halbinsel ausbreiten konnte, eine dritte Nachfolgegesellschaft des Römischen Reiches entstanden, die allerdings der iranischen Welt ebenso viel verdankte wie der römisch-griechischen.
Dass bei einem derart breit angelegten intellektuellen Unternehmen nicht alle Feinheiten, Forschungsdiskussionen und Fragestellungen vollständig und erschöpfend behandelt werden konnten, versteht sich von selbst. Das ist aber auch nicht das Ziel einer Gesamtdarstellung, und Kolleginnen und Kollegen, die auf solche Lücken hinweisen, werden einräumen müssen, dass es wohl kaum eine gelungenere und so kohärente Darstellung gibt, die aktuelle Debatten und Problemstellungen eröffnet und in diese einführt. Einfach gesagt: Ein besserer Referenzpunkt für die weitere Beschäftigung mit der Epoche auf diesem Niveau und in dieser Ausführlichkeit liegt nicht vor. Zudem ist Meiers "Völkerwanderung" auf dem Buchmarkt äußerst erfolgreich und erreicht einen Leserkreis weit über die Fachgrenzen hinaus. [2] Meier hat der Sache mit seinem neuen Standardwerk einen großen Dienst erwiesen.
Anmerkungen:
[1] Ernst Edward Aurel Stein: Geschichte des spätrömischen Reiches 1, Wien 1928; der zweite Band erschien postum in französischer Sprache: Histoire du Bas-Empire: De la disparition de l'Empire d'Occident à la mort de Justinien, Brüssel / Paris 1949; Alexander Demandt: Die Spätantike. Römische Geschichte von Diocletian bis Justinian 284-565, 2. Aufl. München 2007, ist begrenzter in Zeit, Raum und Forschungsperspektive und versteht sich als Handbuch. Walter Pohls: Die Völkerwanderung. Eroberung und Integration,2. Aufl., Stuttgart 2005 sowie Herwig Wolframs: Das Römerreich und seine Germanen. Eine Erzählung von Herkunft und Ankunft, Wien / Köln / Weimar 2018 haben andere Schwerpunkte. Jüngere vergleichbare Werke in englischer Sprache zeigen ebenfalls nicht den breiten Anspruch des hier anzuzeigenden Buches: Stephen Mitchell: A History of the Later Roman Empire, 2. Aufl. Malden 2015 und Michael Kulikowski: Imperial Tragedy. From Constantine's Empire to the Destruction of Roman Italy. AD 363-568, London 2019 fokussieren sich auf die römische Geschichte; Chris Wickham: Framing the Early Middle Ages. Europe and the Mediterranean 400-800, Oxford 2005 ist wirtschaftshistorisch orientiert; Guy Halsall: Barbarian Migrations and the Roman West, 376-568, Cambridge 2007 ist, wie der Titel schon sagt, auf den Westen fokussiert. Peter J. Heather: The Fall of the Roman Empire, London 2005 und ders: Empires and Barbarians. Migration, Development and the Birth of Europe,London 2009, fehlt ebenfalls ein konsequenter Blick nach Osten und in die islamische Welt.
[2] Thomas Speckmann: Einblick in eine Zeit, die vom Wandern der Völker geprägt ist, in: NZZ 09.01.2020; Stefan Rebenich, in: SZ 10.01.2020; Hartwin Brandt: Götter gegen Krisen, in: Die Zeit 22.04.2020; Andreas Kilb: Zu Neujahr kamen die Vandalen über den Rhein, in: FAZ 23.11.2019.
Roland Steinacher