Thorsten Holzhauser: Die "Nachfolgepartei". Die Integration der PDS in das politische System der Bundesrepublik Deutschland 1990-2005 (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte; Bd. 122), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2019, X + 482 S., 3 s/w-Abb., ISBN 978-3-11-063342-9, EUR 69,95
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Die Geschichte der PDS ist nicht nur aus einer engeren parteiengeschichtlichen Perspektive von Interesse. Vielmehr vermag sie, wie die gelungene Mainzer Dissertation von Thorsten Holzhauser zeigt, auch weitergehende Einsichten in den Wandel der politischen Kultur des wiedervereinigten Deutschlands zu geben. Die Studie liefert eine überzeugende Analyse des Wandels der "Nachfolgepartei" der SED von ihrer Entstehung aus den Trümmern der Sozialistischen Einheitspartei an der Jahreswende 1989/90 bis zur Gründung der Linkspartei im Jahr 2005. Sie basiert auf einer extensiven Auswertung der überregionalen Presse und zeitgenössischer wissenschaftlicher Analysen, die durch parteiinterne Unterlagen der PDS und der wichtigsten bundesdeutschen Parteien sowie einigen Interviews ergänzt werden. Die Arbeit versteht sich als eine "politisch-kulturelle Integrationsgeschichte" (10), die allmähliche Einbindung der PDS in die bundesdeutsche politische Kultur bildet ihren Fluchtpunkt. Sie geht dabei auf überzeugende Weise von einem differenzierten Konzept von "Integration" als mehrdimensionaler "Verhältnis- und Aushandlungsprozess" (10) aus. Politische Integration wird nicht einfach als Annäherung an ein normatives Modell von Demokratie verstanden, sondern als ein offener Prozess, an dem immer mehrere Akteure beteiligt waren und der vor dem Hintergrund eines sich wandelnden politisch-kulturellen "Grundkonsens" vonstattenging. Entsprechend konzentriert sich die Arbeit nicht nur auf die PDS, ihre Programmatik und interne Deutungskämpfe. Vielmehr bezieht sie Positionen gegenüber der PDS seitens ihrer politischen Konkurrenz sowie einer weiteren politischen Medienöffentlichkeit mit ein, deren Darstellung einen Großteil der Studie ausmacht.
Die Arbeit konstatiert eine zunehmende "Normalisierung" der PDS als Ergebnis eines doppelten Prozesses. Einerseits verfolgte eine einflussreiche Gruppe von "Reformern" um die Spitzenpolitiker Gregor Gysi und André Brie eine bewusste Öffnungspolitik der Partei und konnte diese gegenüber orthodox-kommunistischen Traditionsmilieus im Osten sowie unorthodox-linken Neumitgliedern im Westen dauerhaft durchsetzen. Im Mittelpunkt dieser Politik stand die Akzeptanz der liberal-kapitalistischen bundesdeutschen Ordnung. Andererseits wäre jedoch die gesellschaftliche Akzeptanz der PDS ohne einen Wandel der politischen Kultur der Bundesrepublik kaum denkbar gewesen. Nach 1989 verloren ältere antitotalitäre Deutungsmuster an Bedeutung und Bemühungen einer antikommunistischen Isolation der PDS, wie sie die CDU in ihrer "Rote-Socken"-Kampagne 1998 unternahm, erschienen zunehmend als ein ideologisches Relikt des Kalten Krieges. Neue "post-ideologische" Einstellungen legten wie auch machtstrategische Überlegungen am Ende der 1990er Jahre einen pragmatischen Umgang mit den Sozialisten nahe. Zugleich trugen die Wahlerfolge der PDS in den ostdeutschen Bundesländern und erste Regierungsbeteiligungen zur politisch-institutionellen Integration der PDS bei. Bis 1998 konnte die PDS ihre Akzeptanz in der bundesdeutschen, westdeutsch geprägten Medienöffentlichkeit deutlich steigern. Doch die hohen Erwartungen, die diese Entwicklungen und der Erfolg bei den Bundestagswahlen 1998 in der Partei weckten, erwiesen sich als trügerisch. Es war der Studie zufolge gerade die "Normalisierung" der Partei, die zu einem Einbruch in der Wählergunst führte, da sich systemkritische Protestwähler von der PDS abwandten. Das Ausscheiden aus dem Bundestag im Jahr 2002 führte zu einer tiefen Parteikrise, die erst im Kampf gegen die Agenda-Reformen der rot-grünen Bundesregierung überwunden werden konnte, in dem die PDS als "Protestpartei gegen den Neoliberalismus" (417) auch in Westdeutschland Wählergruppen anzusprechen vermochte, die den sozialstaatlichen Status Quo der alten Bundesrepublik erhalten wollten. Die Opposition gegen den "Neoliberalismus" ermöglichte der PDS den Anschluss an spezifisch westdeutsche Protesttraditionen und bildete die Grundlage für die Entstehung der Linkspartei als einer gesamtdeutschen politischen Kraft nach 2005.
Holzhauser erzählt die Geschichte der PDS kenntnisreich und in einer präzisen, gut verständlichen Sprache. Durch seinen differenzierten Ansatz und eine weitgehende analytische Distanz zu seinem Gegenstand vermag er den unfruchtbaren politikwissenschaftlichen Streit der 1990er und 2000er Jahre um den demokratischen Charakter der PDS produktiv zu überwinden. Der breite Fokus der Arbeit hat dabei zunächst viele Vorteile. Er vermag das Ineinandergreifen von parteiinternen Entwicklungen und Veränderungen des politisch-kulturellen Umfelds als aufeinander bezogenen Prozess verständlich zu machen und die unterschiedlichen Antriebskräfte der politischen Integration in ihrem Einfluss zu gewichten. Ein grundlegender Einstellungswandel gegenüber der PDS, der sich nicht zuletzt in der Zunahme persönlicher Kontakte auf Bundesebene sowie der Einladung in Talkshows und weitere öffentlich-mediale Foren äußerte, tritt plastisch hervor. Der weite Ansatz der Arbeit hat jedoch auch unvermeidbare Kosten. So verzichtet die Arbeit auf eine tiefergehende sozial- und erfahrungsgeschichtliche Analyse von Funktionärskörper und Mitgliedschaft. Neben einigen kurzen Ausflügen in die Niederungen der Lokalpolitik verbleibt die Arbeit auf der Ebene der Spitzenpolitik in Bund und Ländern. Wie sich die Kontakte zwischen PDS und ihren politischen Kontrahenten vor Ort, in den Gewerkschaften aber auch etwa im Feld der Kultur gestalteten, wird kaum beleuchtet. Auch auf die Frage, wie die Mitglieder- und Wählerschaft PDS ihren Weg in das vereinte Deutschland fand, kann die Studie nur Mutmaßungen anstellen. Immerhin legt sie nahe, dass die "Normalisierung" der PDS zumindest in Ostdeutschland ein politisches Vakuum schuf, in das nicht zuletzt die AfD vorstoßen konnte.
Till Kössler