Karsten Brüggemann: Licht und Luft des Imperiums. Legitimations- und Repräsentationsstrategien russischer Herrschaft in den Ostseeprovinzen im 19. und frühen 20. Jahrhundert. (= Veröffentlichungen des Nordost-Instituts; Bd. 21), Wiesbaden: Harrassowitz 2018, 536 S., ISBN 978-3-447-10820-1, EUR 53,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Obwohl der Politik des Russischen Reiches in seinen nicht-russischen Gebieten im Rahmen des wiedererneuten Interesses an imperialer Erfahrung (Vgl. die New Imperial History) in den letzten Jahrzehnten viel Aufmerksamkeit geschenkt worden ist, sind die baltischen Provinzen zumeist nicht Gegenstand analytischer Betrachtung geworden. Dies liegt wahrscheinlich daran, dass die baltischen Provinzen scheinbar nie Bestandteil der mental map des russischen nationalen Territoriums (Alexei Miller [1]) gewesen sind. Das vorliegende Buch von Karsten Brüggemann modifiziert diese Annahme und füllt damit eine wesentliche Lücke in der historischen Forschung über die russische Pribaltika bis zum Ersten Weltkrieg.
Im Kern geht es in Brüggemanns Ansatz um die "mentale Aneignung" (17) des Baltikums als eines nationalen (das heißt nicht mehr rein imperialen) Territoriums. Diesem Vorgang der mentalen Aneignung wird auf Grundlage zeitgenössischer Texte nachgespürt. Der Verfasser hat umfangreiche Recherchen unternommen, um in russländischen literarischen, biografischen und politischen Texten und Diskursen des 19. Jahrhundert Vorstellungen von den baltischen Provinzen zu identifizieren und ihre Transformation nachzuvollziehen, um die imperiale Erfahrung im letzten Jahrhundert des Romanov-Reiches schildern zu können.
Die Tatsache, dass es Brüggemann um den "baltischen Text der russischen Kultur" (33) geht, bedeutet allerdings nicht, dass nur russische Autoren behandelt würden. Die Vorstellung von einem "russischen Baltikum" in der russischen Kultur wurde im Dialog mit den deutschbaltischen Eliten und ihren Denkmustern entwickelt: Jurij Samarin, der Brüggemann zufolge die russischen Ostseeprovinzen gewissermaßen "erfunden" hat (199), stand in einer ständigen Polemik mit diesen Eliten. Die Staatsmänner, welche die imperiale Politik Russlands gegenüber den Ostseeprovinzen formulierten und betrachteten, waren oft selbst deutschbaltischer Abstammung. Im Falle des Slawophilentums (Ivan Aksakov und andere) lässt sich die negative Einstellung gegenüber der baltischen Autonomie nicht von der unter Reichsbeamten und im Militär weit verbreiteten Vorstellung einer "übermäßigen" deutschen Hegemonie trennen. Allerdings beschäftigt sich der Verfasser relativ wenig mit dem Bild der kooptierten und privilegierten baltischen Eliten, die bei der Modernisierung des Russischen Reiches als Funktionseliten wirkten. Seine Aufmerksamkeit gilt größtenteils dem Bild der Ostseeprovinzen und ihrer Rolle im Reichsgefüge.
Die Epoche, die in diesem Buch behandelt wird (von der Bauernbefreiung im Baltikum nach den napoleonischen Kriegen bis zum Ersten Weltkrieg), ist aber auch aus einem anderen Grunde interessant. Sie markiert den Zeitraum "des Einbezugs der Mehrheitsbevölkerung in den imperialen Zusammenhang" (34). Obwohl die Nationalbewegungen der Letten und Esten in diesem Buch nur am Rande geschildert werden, ist Brüggemanns Forschungsansatz für dieses Thema höchst relevant. Der Verfasser zeigt, wie die Beendigung der religiösen und wirtschaftlichen Unterdrückung der lettischen und estnischen Bauern von der "mittelalterlichen" deutschbaltischen Elite als ein Legitimationsargument für die russische Herrschaft benutzt wurde. Die aufkommenden Nationalbewegungen schlossen sich diesem Diskurs an, wobei die vermeintlich wohlwollende Autokratie als ein Gegenmittel gegen die deutsche Herrschaft konzipiert wurde. Diese Einstellung änderte sich erst im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhundert, als die geradezu chauvinistische Einstellung einiger Vertreter der russischen Staatsmacht gegenüber den kulturellen Bestrebungen der Esten und Letten deutlich hervortrat.
Während sich der Hauptteil der Monografie überwiegend an den Texten der "schreibenden Eliten" Russlands orientiert, ist der letzte Teil den "Repräsentanten" des Imperiums gewidmet. Hier analysiert Brüggemann die Tätigkeit bestimmter Gruppen, Individuen und Rituale, die im Baltikum die "russische Macht" symbolisch repräsentierten: die russische Bevölkerung, die geistlichen und weltlichen Amtsträger sowie auch dynastisch-imperiale Zeremonien, kaiserliche Besuche und Denkmäler in den russischen Ostseeprovinzen. Dieser Teil des Buches beschäftigt sich nicht nur mit diskursiven Legitimations- und Repräsentationsmustern, sondern auch mit der Präsenz der "russische[n] Macht" im öffentlichen Raum. So werden zum Beispiel die Streitigkeiten um den Bau der orthodoxen Kathedralen in Riga und Reval (Tallinn) eingehend geschildert. Die unterschiedliche, imperiale beziehungsweise nationalistische Betrachtung der russischen Geschichte wird im Kontext der Denkmalbauten für Peter den Großen in beiden Städten interpretiert.
Der Verfasser erweist sich als sehr gut orientiert in seinem Thema; er benutzt zeitgenössische Materialien in russischer, deutscher, estnischer, und, etwas weniger, lettischer Sprache. Das umfangreiche Buch ist sehr gut lesbar; auch die kulturellen Parallelen mit den späteren, das heißt sowjetischen und postsowjetischen Epochen der baltisch-russischen Beziehungen sind äußerst aufschlussreich. Kritisch ließe sich anmerken, dass nicht alle Aspekte des "baltischen Textes der russischen Kultur" (33) behandelt werden, zum Beispiel, die Stimmen oppositioneller Intellektueller. Ausführlich analysiert Brüggemann die Legitimationsstrategien russischer Herrschaft, wobei die besondere Erfahrung der baltischen Länder im Vordergrund steht. Dieselbe Erfahrung wurde aber auch für die Delegitimation russischer Herrschaft benutzt: von Michail Bakunin, der den besonderen "feudalen" Status der baltischen Provinzen als Argument für eine anarchische Zersplitterung des Reiches benutzte, bis hin zu den russischen bol'ševiki, die die weiter fortgeschrittene industrielle Entwicklung und Aktivität der Arbeiterbewegung als ein Zeichen der kommenden proletarischen Revolution ansahen. Vielleicht wäre dies aber ein Thema für ein anderes Buch.
Anmerkung:
[1] Alexei Miller: The Romanov Empire and Nationalism. Essays in Methodology of Historical Research, Budapest / New York 2008, 174.
Ivars Ijabs