Andreas Hilger: Sowjetisch-indische Beziehungen 1941-1966. Imperiale Agenda und nationale Identität in der Ära von Dekolonisierung und Kaltem Krieg (= Osteuropa in Geschichte und Gegenwart; Bd. 2), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2018, 767 S., 13 s/w-Abb., 34 Tbl., ISBN 978-3-412-50017-7, EUR 110,00
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Wenig ist im Kalten Krieg auf Grundlage von Wenigem so mystifiziert worden wie die indisch-sowjetische "Freundschaft". Das Narrativ dieser Beziehung speist sich vornehmlich aus zwei Quellen: zum einen aus Ängsten westlicher Politiker und Diplomaten, die neben pragmatischen Gründen für die Zusammenarbeit auch ein tiefergehendes wirkliches Verstehen selbst weiter Bevölkerungskreise zu erkennen meinten, zum anderen aus indischem Wunschdenken bzw. Nostalgie, wenn auf Grundlage von Memoiren und öffentlicher Stellungnahmen einiges in diese "Freundschaft" hineininterpretiert wurde. [1]
Lange war es unmöglich, das Thema auf breiter Quellenbasis im Detail zu untersuchen. Andreas Hilger, Vizedirektor des Deutschen Historischen Instituts in Moskau, hat dies nun als ausgewiesener Experte für russische Geschichte sowie Internationale Beziehungen unternommen. Für seine in Buchform erschienene Habilitationsschrift hat er eine unglaubliche Vielzahl an Quellen insbesondere in russischen Archiven erschlossen. Weite Teile der Studie basieren fast ausschließlich auf dieser Grundlage. Neben der Analyse der politischen Beziehungen im engeren Sinne bietet Hilger eine moderne Perzeptionsgeschichte und eine bemerkenswerte Untersuchung der Wissenschafts- und Kulturbeziehungen, hier vor allem der jeweiligen Literatur. Wirtschaftsbeziehungen und Entwicklungspolitik sind ebenfalls in die Arbeit eingeflossen. Angesichts der geringen Zahl an Personen, die im bilateralen Verhältnis eine Rolle spielten, betont Hilger zu Recht den prägenden Einfluss von Individuen, deren Haltung er wiederum in den Kontext von Umfeld und Zeit setzt.
In den Grundzügen ist die Geschichte der bilateralen Beziehungen bis 1966 bekannt und schnell erzählt. Bedingt durch die politische Konstellation herrschte lange eine tiefe Unkenntnis der jeweiligen Gegenseite. Bemühungen der Regierung Nehru um eine Zusammenarbeit fanden jahrelang wenig Resonanz. Während der gesamten Herrschaftszeit Stalins stand Indien unter dem Generalverdacht, nicht wirklich unabhängig von den Westmächten geworden zu sein. Als "Durchbruch" gilt allgemein das Jahr 1955, als Nehru die Sowjetunion und Chruschtschow Indien besuchten. Anschaulich weist Hilger jedoch nach, dass persönlicher Kontakt und nun regelmäßiger Austausch einer begrenzten Anzahl von Besuchern nicht zu einem wirklichen gegenseitigen Verständnis führten. Vielmehr prallten zwei dauerhaft unvereinbare Konzepte aufeinander - hier imperiale Programmatik, dort nationale Selbstbestimmung. Beide Seiten waren überzeugt davon, Entscheidendes zur Weltgeschichte beitragen zu können: Im Falle Moskaus waren dies Sozialismus, Fortschritt und der neue Mensch, im Falle Delhis eine zivilisatorische Mission, die sich auf eine alte Hochkultur berief und in Gandhi ihre moderne Ausprägung gefunden haben wollte. Indisch-sowjetische Gemeinsamkeiten fanden sich daher fast nur in Bezug auf Dritte. Die vor allem von der sowjetischen Propaganda postulierte Freundschaft dagegen war ein Konstrukt. In der UdSSR sah man wenig verhohlen auf das "rückständige" Indien mit seinen "bourgeoisen" Eliten herunter, während die individualistischen Inder von Gewalt, Gängelung, Zensur und Konformität in der Sowjetunion abgeschreckt wurden.
Selbst die politischen Beziehungen waren mehr Schein als Sein. Ab Mitte der 1950er Jahre legte die UdSSR bei Kaschmirdebatten im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zuverlässig ihr Veto zugunsten Indiens ein. Waffenlieferungen aber begannen erst 1963, Kredite wurden nur in geringem Umfang und zu harten Konditionen gewährt. Delhi wiederum irritierte Moskaus harte Haltung im globalen Kalten Krieg, insbesondere die zu Abrüstung und Atomwaffen. Schließlich warfen die zunehmend gespannten Beziehungen beider Staaten zur Volksrepublik China einen langen Schatten auf das bilaterale Verhältnis.
Zu Recht unterstreicht Hilger im Schlusskapitel, dass die sowjetische Vermittlung nach dem zweiten Kaschmirkrieg 1965 daran wenig änderte. Nach der Erklärung von Taschkent erlebte Indien vielmehr eine vorsichtige sowjetisch-pakistanische Annäherung. Selbst der gern verklärte indisch-sowjetische Freundschaftsvertrag vom August 1971, der nach indischer Lesart erst den Blitzkrieg in Ost-Pakistan ermöglichte, beendete nicht "Gegensätze und Unvereinbarkeiten in indischen und sowjetischen Grundpositionen". (642) Wie andere Detailstudien zum Kalten Krieg betont auch Hilger, dass der Konflikt ein globaler war und Kontinuitäten bei Personal wie Einstellungen wohl prägender waren als vermeintliche Zäsuren.
Gelegentlich stößt das Buch an Grenzen, die jedoch nicht der Autor zu verantworten hat. Hilger verweist zu Recht auf große Lücken und teils geringe Aussagekraft insbesondere bei sowjetischen Archivalien. So bleiben große Fragen wie indische Entscheidungsprozesse oder die Haltung der UdSSR nicht nur zur Besetzung der portugiesischen Kolonie Goa im Dezember 1961 ein Mysterium, sondern auch zum indisch-chinesischen Grenzkonflikt im Herbst 1962. Anzumerken ist, dass seit Fertigstellung der Habilitationsschrift eine Fülle indischer Archivalien zugänglich geworden ist, auch zum vorliegenden Thema. [2] Auf dieser Grundlage können Bewertungen des Indischen Auswärtigen Dienstes und von Entscheidungsprozessen in Delhi, die Hilger gern aufgrund von schriftlichen Zeugnissen Nehrus und seiner chronisch erfolglosen wie missgünstigen Schwester Vijaya Lakshmi Pandit vornimmt, durchaus relativiert werden. [3]
Die Tatsache, dass angesichts der fortschreitenden Erschließung indischer Archivalien diverse Aspekte von Hilgers Thema weiter erforscht werden, betont nur die Relevanz seiner Monographie. Endlich liegt zu einem wichtigen Thema der frühen Jahre des Kalten Kriegs eine vorbildlich dokumentierte, umfassende Untersuchung vor, die insbesondere hinsichtlich der sowjetischen Seite auf lange Zeit Standards setzen wird. Sollte Moskau eines Tages diverse Geheimdokumente freigeben, auf die mehrfach verwiesen wird, sitzt Hilger genau an der richtigen Stelle. Wenn man einen Wunsch an den Verfasser richten möchte, so wäre dies eine Präsentation seiner Ergebnisse, die auch der weitgehend englischsprachigen Forschergemeinde zugänglich wäre. Und zuletzt würde man sich auf eine Fortführung der Untersuchung in spätere Jahre freuen, wie sie im Schlusskapitel angerissen worden ist.
Anmerkungen:
[1] Siehe zum Beispiel S. Nihal Singh: The Yogi and the Bear. A Study of Indo-Soviet Relations, Riverdale, MD 1986, oder J.A. Naik: Russia's Policy towards India. From Stalin to Yeltsin, New Delhi 1995.
[2] Vgl. Rakesh Ankit: India-USSR, 1946-1949: A false Start?, in: Madhavan K. Palat (ed.): India and the World in the First Half of the Twentieth Century, Abingdon / New York 2018, 160-188; Amit Das Gupta: The Indian Civil Service and Indian Foreign Policy, in: ebd., 134-159.
[3] Zuletzt Amit Das Gupta: The Indian Civil Service and Indian Foreign Policy, 1923-1961, Abingdon / New York 2021.
Amit Das Gupta