Elizabeth Biggs: St Stephens College, Westminster. A Royal Chapel and English Kingship, 1348-1548 (= Studies in the History of Medieval Religion), Woodbridge / Rochester, NY: Boydell & Brewer 2020, 262 S., 6 s/w-Abb., eine Kt., ISBN 978-1-78327-495-6, GBP 60,00
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Jean Froissart sprach 1388 von der "chappelle du palays qui est moult belle, moult riche et moult noble". Tatsächlich: die Stephanskapelle, korrekter: die Kollegiatskirche des Hl. Stephan im Palast zu Westminster, gehörte zu den eindrucksvollen Kirchenbauten des späten Mittelalters. Gegründet wurde sie 1348 von Edward III. zeitgleich mit der Georgskapelle auf Schloss Windsor. Anders als letztere, bis heute Sitz eines allein der Königin verantwortlichen Kanonikerkollegs, hat sie die Stürme der englischen Reformation jedoch nicht überdauert. 1548 erfolgte die Auflösung und die Umwandlung der Oberkirche in den Sitzungssaal des House of Commons. Dies rettete zumindest die Architektur. Beim Großbrand 1834 fiel St Stephen's (wie der Großteil des Palastes) den Flammen zum Opfer. Übrig blieb allein die Unterkirche St Mary's Undercroft, die bis heute als Kapelle für die Mitglieder des Parlaments dient.
Elizabeth Biggs widmet dieser sowohl personell als auch materiell bestens ausgestatteten Kolleggründung eine ausgesprochen lesenswerte Untersuchung. Entstanden ist sie im Rahmen eines größeren, vom Arts and Humanities Research Council finanzierten, an der Universität York angesiedelten und inzwischen abgeschlossenen Forschungsprojekts St Stephen's Chapel, Westminster: Visual and Political Culture 1292-1941. Die Arbeit gibt Einblick in das Verhältnis von regierendem Souverän und den Mitgliedern der Palastkapelle, zeigt, wie sich königliche Legitimation im Kirchenraum entfalten konnte, analysiert mithin St Stephen's als Schlüsselinstitution inmitten des wichtigsten Königspalastes: die Baulichkeiten, das Personal und ihre Beziehung mit jedem der englischen Souveräne im Zeitraum von zwei Jahrhunderten von der Gründung 1348 bis zur Auflösung 1548.
Die Arbeit ist - umschlossen von einer Einführung und Schlussbemerkungen - in fünf, chronologisch fortschreitende Abschnitte gegliedert (I. Finding a Place Within Westminster, 1348-1394; II. Magnificence and Difficulties under Richard II, 1377-1399; III. Weathering Political and Economic Storms, 1399-1485; IV. A New Kind of Court? Display, Pageantry and Worship, 1471-1536; V. Responding the Reformation, 1527-1548). Die Quellensituation präsentiert sich deplorabel: ein Archiv hat sich für St Stephen's nicht erhalten. Ganz offensichtlich wanderten die Archivalien nach der Auflösung nicht - wie eigentlich üblich - in die Überlieferung der Courts of Augmentation, d.h. derjenigen Regierungsbehörde, die für die Verwaltung der konfiszierten kirchlichen Ländereien, Immobilien und Wertgegenstände zuständig war, sondern wurden zerstreut. Einiges wurde immerhin von historisch interessierten Privatleuten gerettet - und schließlich ans British Museum weitergereicht, wo sich das Totenbuch (obit book) des Kollegs noch heute befindet. Biggs konnte also nicht auf die originale Überlieferung zurückgreifen, sondern war gezwungen, sich mit dem zufrieden zu geben, was in Nachbarinstitutionen wie St. George's, der Westminsterabtei oder den königlichen Zentralbehörden wie der Kanzlei oder dem Exchequer erhalten geblieben ist. Ziel konnte also nicht eine Geschichte der Institution "von innen" sein. So sind es vor allem drei Themenbereiche, die die fünf Kapitel des Bandes prägen: der Blick richtet sich 1. auf die in St Stephen's gefeierten Gottesdienste per circulum anni (mit besonderer Berücksichtigung der elaborierten Kirchenmusik), 2. auf die Rolle des Gebäudes als Palastkapelle und institutioneller Ausdruck königlicher Frömmigkeit und 3. auf die Verbindung der Kanoniker zu den im Palast ansässigen Verwaltungsbehörden.
Einigen Raum nimmt die detaillierte Analyse des Verhältnisses von St Stephen's zur benachbarten Abtei von St Peter (Westminster Abbey), der klar dominierenden kirchlichen Institution, ein. Die Benediktinermönche beäugten die Tätigkeit des Dekans und der zwölf vom König direkt ernannten Kanoniker mit Argwohn: man fürchtete eine Schmälerung der eigenen Rechte. Zentraler Streitpunkt war die Frage der parochialen Zugehörigkeit des Palastpersonals und der Mitglieder der Verwaltungsbehörden: unterstanden sie St Stephen's oder der von der Abtei kontrollierten Pfarrkirche St Margaret's? Der Streit konnte nach Jahrzehnten erbitterter rechtlicher Auseinandersetzungen 1394 schließlich zugunsten der Abtei entschieden werden. Biggs verweist hier zu Recht darauf, dass der Streit nicht nur um Privilegien, sondern auch um Fragen der Jurisdiktion kreiste, denn gleich drei Rechtssphären waren betroffen: neben den päpstlichen judices delegati in England erhoben die kurialen Stellen in Rom und die königlich-englischen Gerichte Mitsprachrechte.
Die der Palastkapelle zugeordneten Gebäude, vor allem die Wohnhäuser des Dekans und der Kanoniker, deren Gärten sich bis hinunter zur Themse erstreckten, dominierten das Palastensemble und kündeten jedem über die Themse in Westminster ankommenden Besucher vom Anspruch und Einfluss der Institution. Nicht nur die Architektur wirkte prägend, sondern auch die in der Kapelle zelebrierte Liturgie. Den 1355 verabschiedeten Statuten zufolge sollte sie dem Ritus von Salisbury (Sarum rite) cum nota folgen. Zunächst dürfte damit wohl wenig mehr als die von sechs Chorknaben ausgeführte Gregorianik, nur wenige Jahrzehnte nach der Gründung jedoch elaborierte polyphone Musikpraxis gemeint gewesen sein.
Interessante (und erstaunlicherweise wenig konfliktträchtige) personelle Überschneidungen ergaben sich immer dann, wenn der König in Westminster residierte und St Stephen's von zwei Institutionen gleichzeitig bespielt werden musste: den Kanonikern und den Angehörigen der Chapel Royal, die für die gottesdienstliche Versorgung des Königs an allen Orten, an denen er sich aufhielt, zuständig waren. Mitunter stand der Dekan des Kollegs gleichzeitig auch an der Spitze der Chapel Royal, was Reibungsverluste minimierte und ein Maximum an professioneller, dynastische Legitimierung fördernder Prachtentfaltung garantierte. Stammten die Kanoniker in der Anfangszeit fast ausschließlich aus den großen Verwaltungsbehörden, wurden die aufgrund der üppigen Einkünfte hochbegehrten Pfründen bald eine Domäne von Mitgliedern des königlichen Haushalts. In St Stephen's profitierte man nicht nur von Steuerbefreiungen, sondern nach 1414 auch von der Zuweisung von Ländereien, die zuvor im Besitz der alien priories gewesen waren. Ab der Mitte des 15. Jahrhunderts delegierte der König sein Ernennungsrecht zunehmend an hochrangige Beamte bzw. Kleriker.
Der Bedeutungsverlust von St Stephen's wurde spätestens dann eingeläutet, als Heinrich VIII. 1529 seine Residenz von Westminster nach Whitehall verlegte. 1534 überlebte man die erste, vom König initiierte Auflösungswelle von Klöstern und Kollegiatskirchen. Biggs demonstriert eindrücklich, wie aufgeschlossen einige humanistisch gebildete Kanoniker der Reformation gegenüberstanden, von der Radikallösung 1548 dann aber doch überrascht wurden. Das Vorgehen Edwards VI. scheint vor dem Hintergrund seiner religiösen Überzeugungen folgerichtig und konsequent: Gedächtnismessen für die Seelen der Verstorbenen im Fegefeuer waren obsolet geworden. Man musste mehr bieten, um der Auflösung zu entgehen: St George's überdauerte die Zeitläufte als Heimstatt des Hosenbandordens, die Universitätskollegien in Oxford und Cambridge wucherten mit ihrem Bildungspfund. St Stephen's aber wurde nicht mehr benötigt.
Biggs Arbeit zeigt, wie sich zehn Souveräne über zwei Jahrhunderte lang der königlichen Gründung St Stephen's bedienten, um Macht- und Legitimationsansprüche sinnfällig nach außen zu tragen. In Gestalt dieser Kolleggründung zeigt sich, welch enge Verbindung königliche Verwaltung und kirchliche Instanzen eingehen und wie diese Verbindung bereits lange vor den reformatorischen Verwerfungen im Sinne des Souveräns instrumentalisiert werden konnte. Eine auf sorgfältiger Quellenauswertung beruhende, nicht nur für die englische Geschichte wichtige Arbeit, die eine breite Leserschaft verdient hat.
Ralf Lützelschwab