Petra Weber: Getrennt und doch vereint. Deutsch-deutsche Geschichte 1945-1989/90, Berlin: Metropol 2020, 1292 S., ISBN 978-3-86331-480-4, EUR 49,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Enrico Heitzer: Die Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU). Widerstand und Spionage im Kalten Krieg 1948-1959, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2015
Joachim Radkau: Theodor Heuss, München: Carl Hanser Verlag 2013
Jörg Echternkamp: Soldaten im Nachkrieg. Historische Deutungskonflikte und westdeutsche Demokratisierung 1945-1955, München: Oldenbourg 2014
Cornelia Eisler: Verwaltete Erinnerung - symbolische Politik. Die Heimatsammlungen der deutschen Flüchtlinge, Vertriebenen und Aussiedler, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2015
Daniel Niemetz: Staatsmacht am Ende. Der Militär- und Sicherheitsapparat der DDR in Krise und Umbruch 1985 bis 1990. Mit ausgewählten Dokumenten, Berlin: Ch. Links Verlag 2020
Ian Kershaw: Höllensturz. Europa 1914 bis 1949, 3. Aufl., München: DVA 2016
Dierk Hoffmann: Von Ulbricht zu Honecker. Die Geschichte der DDR 1949-1989, Berlin: BeBra Verlag 2013
Jörg Ganzenmüller / Bertram Triebel (Hgg.): Gesellschaft als staatliche Veranstaltung? Orte politischer und kultureller Partizipation in der DDR, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2022
Seit den 1990er Jahren sind in der Historiographie verschiedene Untersuchungsansätze entwickelt worden, die darauf abzielen, die Geschichte der DDR nicht nur mit der nationalsozialistischen Diktatur und den anderen stalinistischen bzw. staatssozialistischen Regimes in Ost- und Ostmitteleuropa zu vergleichen, sondern auch wechselseitige Bezüge, Verflechtungen und Abgrenzungen zwischen den beiden deutschen Staaten von 1949 bis 1990 zu rekonstruieren und zu analysieren. Dabei hat besonders Christoph Kleßmanns Konzept der "asymmetrisch verflochten Parallelgeschichte" die Forschung nachhaltig beeinflusst [1].
Davon ausgehend sind inzwischen einige Bände zu den Bezügen zwischen den beiden deutschen Staaten veröffentlicht worden [2]. Auch Monographien haben die Geschichte der Bundesrepublik und der DDR aufeinander bezogen und miteinander verschränkt. Dabei sind wechselseitige Wahrnehmungen, Transfers, Verflechtungen und Abgrenzungen herausgearbeitet worden, allerdings in unterschiedlichem Ausmaß. Auch hat die - normative grundsätzlich gebotene - differente Bewertung der politischen Systeme, aber auch die empirisch nachgewiesene Asymmetrie zwischen den beiden deutschen Staaten in vielen Studien dazu geführt, dass Kategorien und Bezugsgrößen der westdeutschen Entwicklung auf die Geschichte der DDR übertragen worden sind. Alternativ ist die Entwicklung des ostdeutschen Staates in die Geschichte Westeuropas oder - noch darüber hinaus - des Westens eingeschrieben worden [3].
Damit zeichnen sich zwar Wege zu einer "gelebten Verflechtungsgeschichte jenseits der 'Systemkonkurrenz'" ab [4]. Jedoch strebt Petra Weber, die vor allem zur politischen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und DDR publiziert hat, mit ihrer umfassenden Synthese eine gleichberechtigte Darstellung der Geschichte beider deutscher Staaten an. Dabei soll allerdings der "normative Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur" (15) ebenso wenig verwischt werden wie die bestehende Ungleichheit zugunsten der Bundesrepublik. In den einzelnen Kapiteln zum besetzten Deutschland (1945-1947/48), zum Höhepunkt des Kalten Krieges (1948-61), zu Entspannung, Krisen und Reformen (1961 bis zu den späten siebziger Jahren), zu den achtziger Jahren und zur Herstellung der deutschen Einheit (1989/90) wird zunächst und vorrangig die außen- und innenpolitische Entwicklung behandelt. Darüber hinaus werden wirtschaftliche Ordnungen und Prozesse, Grundzüge des gesellschaftlichen Wandels und die Kulturgeschichte umfassend erläutert, wenngleich weniger ausführlich als die Politik.
In den einzelnen Abschnitten stellt die Verfasserin die Geschichte der Bundesrepublik und der DDR zusammen und in ihrer Verschränkung dar. Im Besonderen zeichnet sie wechselseitige Wahrnehmungen, Interaktionen, Reaktionen und Transfers, aber auch Abwehrprozesse und Blockaden nach. Insgesamt wird dabei deutlich, dass die Regierungen der beiden deutschen Staaten im Rahmen der übergreifenden Konfrontation des Kalten Krieges durchweg um Legitimität stritten. So verteidigte die Bundesregierung in den siebziger Jahren bei ihrem Ausbau der Sicherheitsorgane gegenüber der Bedrohung durch die Terroristen der Roten Armee Fraktion rechtsstaatliche Grundsätze nicht zuletzt, um sich damit von der Repressionspolitik der SED abzugrenzen (624). Auch beeinflussten wechselseitige Reaktionen die Sozialpolitik, den Konsum und sogar die Gestaltung des - für die Wahrnehmung und Vermittlung wichtigen - Fernsehprogramms (vgl. z. B. 589, 639). Obgleich neben den offenkundigen Unterschieden auch Ähnlichkeiten unverkennbar waren - wie beim Umgang mit NS-Tätern -, dominierten alles in allem gegenseitige Abgrenzungen die Auseinandersetzung zwischen den deutschen Staaten (vgl. 417).
Das Buch besticht vor allem durch die enorme synthetische Leistung der Verfasserin, der es gelungen ist, einzelne Befunde einer Vielzahl spezieller Studien überzeugend zu integrieren. Darüber hinaus hat sie Aktenbestände, Presseorgane und Quelleneditionen ausgewertet. Das Literaturverzeichnis umfasst deshalb mehr als 130 Seiten. Auch wenn ihre normative Präferenz der westdeutschen Demokratie deutlich wird und sie die Politik der Bundesregierung 1989/90 verteidigt, sind Webers Interpretationen ausgewogen. Wiederholt finden sich auch im Einzelnen treffende Deutungen, so zur "subkutane[n] Verwestlichung" (408) in der DDR schon in den 1950er Jahren oder zum "paternalistische[n] Versorgungsstaat" (580) im "realen Sozialismus" zwei Jahrzehnte später.
Dem Charakter als Synthese entsprechend, herrscht in der Darstellung die Perspektive der Regierungen und Eliten vor, wie Petra Weber auch selber konzediert (so 575). Wohlfeil wäre auch eine Kritik an Aspekten und Ereignissen, die relativ knapp behandelt werden, so die wirtschaftlichen Reformen in der DDR in den sechziger Jahren. Stärker fällt schon ins Gewicht, dass man nur gelegentlich Hinweise auf historiographische Kontroversen findet, so zur Entwicklung von Religiosität nach 1990, die auf "eine breite Entkirchlichung" (1049) reduziert wird. Obwohl die Diskussion des Zerfalls der SED-Diktatur (vgl. 1088) demgegenüber gelungen ist, wirkt die Darstellung letztlich etwas hermetisch.
Zudem bezieht die Verfasserin zwar die Geschichte der NS-Diktatur ein, so in den Ausführungen zur Speicherung von Daten durch das Bundeskriminalamt in den siebziger Jahren (629). Jedoch bleiben multilaterale Beziehungen, in die beide deutsche Staaten eingebunden waren, abgesehen vom Kapitel zum besetzten Deutschland insgesamt unterbelichtet. Aus der Konzentration auf das bilaterale Verhältnis zwischen der Bundesrepublik und der DDR resultiert gelegentlich eine Perspektive, die den Stellenwert deutsch-deutscher Bezüge überschätzt. So werden die Protestbewegungen in der Bundesrepublik um 1968 vorrangig im Hinblick auf die Wahrnehmung und politische Indienstnahme durch die SED-Führung diskutiert (besonders deutlich 562 f.), obgleich Einflüsse aus anderen Staaten - vor allem den USA - die Entwicklung der gesellschaftlichen Mobilisierung in den 1960er Jahren deutlich umfassender und nachhaltiger bestimmten als das Verhältnis zum ostdeutschen Staat [5].
Auch wenn man abschließend synthetisierende Überlegungen zu den eigentlich überzeugend herausgearbeiteten abgrenzenden Verflechtungen zwischen den beiden deutschen Staaten vermisst, ist Petra Weber insgesamt ein Werk gelungen, das erstmals die Geschichte der Bundesrepublik und DDR systematisch aufeinander bezieht. Das Buch, das - gemessen am Umfang - zu einem akzeptablen Preis angeboten wird, ist ein Kompendium, das die Forschung nachhaltig anregen wird. Allerdings kann der Inhalt leider nur mit Hilfe eines Personenverzeichnisses erschlossen werden.
Anmerkungen:
[1] Christoph Kleßmann: Konturen einer integrierten Nachkriegsgeschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung "Das Parlament" (APuZ), B 18-19/2005, 3-11, hier: 10; ders.: Verflechtung und Abgrenzung. Aspekte der geteilten und zusammengehörigen deutschen Nachkriegsgeschichte, in: APuZ, B 29-30 (1993), 30-41, bes. 30, 39 f. Zur Diskussion, die hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden kann, mit weiteren Belegen: Dierk Hoffmann / Michael Schwartz / Hermann Wentker: Die DDR als Chance. Desiderate und Perspektiven künftiger Forschung, in: Ulrich Mählert (Hg.): Die DDR als Chance. Neue Perspektiven auf ein altes Thema, Berlin 2016, 23-70, hier: 39-49.
[2] Frank Bösch (Hg.): Geteilte Geschichte. Ost- und Westdeutschland 1970-2000, Göttingen 2015; Christoph Kleßmann (Hg.): The Divided Past: Rewriting Post-war German History, Oxford 2001; Arnd Bauerkämper / Martin Sabrow / Bernd Stöver (Hgg.): Doppelte Zeitgeschichte. Deutsch-deutsche Beziehungen 1945-1990, Bonn 1998; Detlev Brunner / Udo Grashoff / Andreas König (Hgg.): Asymmetrisch verflochten? Neue Forschungen zur gesamtdeutschen Nachkriegsgeschichte, Berlin 2013.
[3] Kerstin Brückweh: Das vereinte Deutschland als zeithistorischer Forschungsgegenstand, in: APuZ, B 28-29 (2020), 4-10, hier: 6 f.
[4] Frank Wolff: In der Teilung vereint. Neue Ansätze der deutsch-deutschen Zeitgeschichte, in: Archiv für Sozialgeschichte 58 (2018), 353-391, hier: 359.
[5] Ingrid Gilcher-Holtey: Die 68er Bewegung. Deutschland - Westeuropa - USA, 4. Aufl., München 2008.
Arnd Bauerkämper