Hans-Jürgen Bömelburg / Norbert Kersken: Mehrsprachigkeit in Ostmitteleuropa (1400-1700). Kommunikative Praktiken und Verfahren in gemischtsprachigen Städten und Verbänden (= Tagungen zur Ostmitteleuropa-Forschung; 37), Marburg: Herder-Institut 2020, VI + 245 S., ISBN 978-3-87969-435-8, EUR 45,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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"Bürgerliche Kinder sollen Deutsch wegen des Handels lernen", auch sei die Kenntnis der deuschen Sitten nicht schädlich, weil in den polnischen Städten sowieso "Deutsche den Vorrang haben", für Adlige bringe das Deutschlernen jedoch keinen Nutzen. So äußerte sich der Professor der Krakauer Akademie Sebastian Petrecy in seinen Aristoteles-Kommentaren Ende des 16. Jahrhundert (190). Der zu besprechende Sammelband versucht, diese Fragen von ethnischer und ständischer Zugehörigkeit und die damit verbundene Mehrsprachigkeit in den Überlappungsregionen Ostmitteleuropas zu fassen. Ostmitteleuropa wird hier verstanden als "die böhmische Krone, Polen und das historische Großfürtentum Litauen", so Hans-Jürgen Bömelburg und Thomas Daiber in ihrer Einleitung (14). Zeitlich beginnt der Band mit dem Ende des Mittelalters, als neben die sogenannten "heiligen Sprachen" (Latein, Griechisch, Kirchenslawisch, Altarmenisch und Hebräisch) zunehmend die lange Zeit nicht verschriftlichten Volkssprachen traten. Gerade im städtischen Bereich wie im eingangs genannten Krakau, aber auch in Lemberg und in Wilna gehörte die Mehrsprachigkeit zur selbstverständlichen Alltagsrealität. Die Multilingualität wurde aber auch an den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Herrscherresidenzen praktiziert. Dies änderte sich erst, als im späten 18. und 19. Jahrhundert hohe Ansprüche an Normierung und Perfektionierung gestellt und zur Karrierevoraussetzung in den Staatsverwaltungen gemacht wurden. Die These der "Mehrsprachigkeit als Regelfall", der dieser Sammelband folgt, ist recht neu und eröffnet andere Perspektiven auf Konflikte, aber auch auf Akkulturations- und Assimilationsprozesse.
Vor dem Hintergrund eines "fragmentierten Forschungsstandes" (20) zur historischen Mehrsprachigkeit handelt es sich bei den meisten Beiträgen um Fallbeispiele. Vlastimil Brom beschäftigt sich zum Auftakt mit der tschechischen Chronistik, der Dalimil-Chronik, die ein sprachlich-kulturell begründetes fremdenfeindliches Ressentiment entwickelt und als Beleg für umfassende Konflikte verstanden wurde, als Norm, bei der man die Praxis der Mehrsprachigkeit vernachlässigte. Es folgen Untersuchungen zu mehrsprachigen Städten und kommunalen Institutionen (Danzig, Krakau, Lemberg, Posen, Thorn), ergänzt von einem Aufsatz zu den Kanzleien in den Städten des Großfürstentums Litauen, wo sich schrittweise das Polnische als Amtssprache durchsetzt (Stefan Rhodewald), sowie einer Analyse der Mehrsprachigkeit am polnisch-schwedischen Wasa-Hof (Bömelburg). Hier lernen wir etwa, dass beim weiblichen Hofstaat sehr viel weniger Wert auf Mehrsprachigkeit in den einzelnen "Arenen" gelegt wurde, das Rechnungswesen deutschsprachig und der "kulturelle" Bereich (Musiker etc.) italienischsprachig war. In Städten allerdings war das Sprachverhalten hierarchisch, das heißt die untergeordneten diasporischen Gruppen hatten meist die größere sprachliche Kompetenz, da sie die Sprachen der herrschenden Gruppen lernen mussten, wie Andrzej Janaczek am Beispiel der Lemberger Armenier zeigen kann. Die einzelnen Beiträge spannen nicht nur thematisch, sondern auch methodisch einen weiten Bogen, einige Aufsätze sammeln und beschreiben eher, so Michał Nowicki die "Altpolnische Bildung" (Old Polish Education) oder Dorota Żołądź-Strzelczyk den Spracherwerb in zwei Erziehungsratgebern des späten 16. und frühen 17. Jahrhundert.
Angesichts der Breite des Themas ist es etwas wohlfeil, fehlende Aspekte anzuführen: So findet etwa Schlesien mit der Metropole Breslau keine Berücksichtigung, obwohl das Titelbild das Wörterbuch Dictionarum Trium linguarum des aus dem schlesischen Löwenberg stammenden Franz Mymer zeigt, das 1528 in Krakau gedruckt wurde. Konversations- oder Gesprächsbücher, die Auskunft über interkulturellen Austausch- und Kommunikationsrituale geben könnten, werden nur im Beitrag von Edmund Kizik behandelt, der die Danziger Sprachlehrbücher beschreibt. Hier scheint aber schon auf, welch wertvolle Quellen diese für die Alltagskommunikation sein könnten, wenn etwa "nachmittägliche Gespräche über Wetter, Politik, Teuerung und Krieg" (152) aufgezeichnet werden.
Die ostmitteleuropäischen Befunde in Spätmittelalter und Früher Neuzeit sind für eine vergleichende gesamteuropäische Forschung in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung. Wurde über andere Regionen und Staaten, die ihre Mehrsprachigkeit durch die Geschichte erhalten haben, wie etwa die Schweiz, vielfach geforscht, so stellt die Erforschung der Mehrsprachigkeit Ostmitteleuropas besondere Herausforderungen nicht nur an die persönliche Sprachkompetenz der Bearbeiter. Auch infolge nationalhistorischer Hypotheken wurde die Komplexität der Mehrsprachigkeit nur unzureichend erforscht: So fehlt einerseits die historische Dominanz der lateinischen Schriftkultur, andererseits eine allgemein verbindliche Verkehrssprache. Die kontinuierliche Anwesenheit von griechisch-, armenisch- und turksprachigen Bevölkerungsgruppen schuf abweichende kontaktlinguistische Grundlagen, was bis in die großen Städte Ostmitteleuropas mit ihren jeweiligen armenischen, tatarischen und jüdischen Gemeinden ausstrahlte (Bömelburg/Daiber, Seite 12). Auch die rechtliche Situation ist spezifisch: Das süd- und westeuropäische Stadtrecht inkludierte Zuwanderer, während ostmitteleuropäische Stadtverfassungen Sondergruppen zu eigenem Recht und mit eigenen Sprachen schufen. So entstand im östlichen Europa eine doch differenzierte und vielfältige Rechts-, Kultur- und Sprachlandschaft, deren Austausch- und Ausgleichsprozesse unter eigenen Rahmenbedingungen stattfanden, die nur interdisziplinär erarbeitet werden können.
Karen Lambrecht