Paul W. Massing: Vorgeschichte des politischen Antisemitismus. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Ulrich Wyrwa, Hamburg: EVA Europäische Verlagsanstalt 2021, XIII + 346 S., ISBN 978-3-86393-123-0, EUR 28,00
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Walter Benn Michaels: Der Trubel um Diversität. Wie wir lernten, Identitäten zu lieben und Ungleichheit zu ignorieren, Berlin: Edition Tiamat / Verlag Klaus Bittermann 2021
Andreas Peham: Kritik des Antisemitismus, Stuttgart: Schmetterling Verlag 2022
Meron Mendel: Über Israel reden. Eine deutsche Debatte, 2. Auflage, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2023
Das Entscheidende an Paul Massings Buch, schrieben Theodor W. Adorno und Max Horkheimer im Vorwort zur deutschen Erstauflage 1959, sei es, dass es helfe, "den Knoten des Zufälligen und Notwendigen, auf selber rationale Weise, zu entwirren". Die englische Originalausgabe erschien zehn Jahre zuvor. Das Buch war Teil des Projekts der Frankfurter Schule, den Umschlag der deutschen Gesellschaft in die Barbarei des Nationalsozialismus zu verstehen. Die Judenfeindschaft spielt dabei eine zentrale Rolle. Die unter anderem vom American Jewish Labor Committee mitfinanzierte Arbeit Massings stellt den ersten sozialgeschichtlichen Überblick zum Antisemitismus im Kaiserreich dar.
Die englische Ausgabe wurde durchaus in der Fachwelt zur Kenntnis genommen. Der deutschen Übersetzung war ein anderes Schicksal auferlegt. Das Buch geriet schnell in Vergessenheit. Umso größer ist das Verdienst des Potsdamer Historikers Ulrich Wyrwa, es in der Europäischen Verlagsanstalt mit einem umfangreichen Nachwort wieder herausgegeben zu haben.
Darin legt er die Biographie Massings dar, die Entstehung des Werkes im Exil, das Zustandekommen der Übersetzung und die Rezeption in den USA wie in Deutschland. Zu guter Letzt diskutiert er die Aktualität und die Grenzen der Studie. Dabei handele es sich "um eine bahnbrechende und prägnante, auch heute noch nicht überholte Darstellung des Antisemitismus im Kaiserreich". (329) Diesem Urteil schließt sich der Rezensent an.
Das Leben des 1902 in Bayern geborenen Massing ist von den Brüchen des 20. Jahrhunderts gezeichnet. Als Student Kommunist geworden, arbeitete er für den Nachrichtendienst der KPD, eine Tätigkeit, die ihn in die Sowjetunion führte. 1933 von den Nazis verhaftet, verbrachte er mehrere Monate in Konzentrationslagern. Nach seiner Entlassung folgte er seiner Ehefrau, Hede Gumperz, in die USA. Nochmals zurück in Moskau gelang es den beiden nur knapp, der stalinistischen Verfolgung zu entgehen. Aufgrund der Schauprozesse in den späten 1930er Jahren brach Massing endgültig mit dem sowjetischen Kommunismus. Als Schriftsteller begann er erste Untersuchungen zum nationalsozialistischen Regime. Frühzeitig plädierte er dafür, dessen ideologischen Grundlagen und die Hetzschrift "Mein Kampf" ernst zu nehmen. Während des Zweiten Weltkriegs beriet er das Office of Strategic Services. 1948 wurde Massing zum Professor für Soziologie an der Rutgers University berufen.
In der Studie untersuchte er die Zeit von der Gründung des Kaiserreichs 1871 bis zum Ersten Weltkrieg 1914. Das Buch ist in zwölf Kapitel unterteilt, die sich an der politischen Entwicklung und den Konjunkturen des Antisemitismus orientieren.
Zunächst behandelte Massing die liberale Ära bis 1878. Die Emanzipation der Juden sei ein Teil des Kampfes zwischen dem aufstrebenden Bürgertum und den Feudalmächten gewesen. Nach den Erfolgen der Juden habe die Weltwirtschaftskrise 1873 wie ein "Blitzschlag" (4) gewirkt und den Fortschrittsoptimismus gedämpft. In jener Zeit formulierten Wilhelm Marr und Otto Glagau einen totalitären Antisemitismus. Ihre Agitation gegen die Börse und die Unterscheidung zwischen produktivem und unproduktivem Kapital habe einige Topoi des "linken" Flügels der Nationalsozialisten vorweggenommen. Zeitgleich führte Bismarck den Kulturkampf gegen die Katholiken. Außerdem schwächte er den Liberalismus und unterdrückte die sich formierende Arbeiterbewegung. Dennoch gewann die soziale Frage an Relevanz. Dabei vollzog sich eine widersprüchliche Entwicklung: "So paradox es klingen mag, es war das Verlangen nach Demokratisierung des Staates, das bei der in Deutschland vorherrschenden Gesellschaftsschichtung dem politischen Antisemitismus den größten Antrieb gab." (27) Dieses Bestreben ermöglichte eine Massenbewegung von rechts zu organisieren. Hierbei spielte der Hofprediger Adolf Stoecker eine zentrale Rolle. Um die proletarischen Massen mit dem (christlichen) Staat zu versöhnen, agitierte er unaufhörlich auf Massenveranstaltungen. Gleichzeitig untergrub Bismarck mit der Schutzzollpolitik den Liberalismus und setzte nach einem Attentat auf Kaiser Wilhelm I. 1878 das Sozialistengesetz durch.
Anfang der 1880er Jahre verbuchten die Antisemiten einige Erfolge in Berlin. Dann breitete sich eine neue Form der Judenfeindschaft aus, die nicht mehr konservativ oder christlich eingefärbt war. Das Zentrum dieser Bewegung verlagerte sich in die Provinzen. Der Rücktritt Bismarcks 1890 und die Ära Leo von Caprivis gingen einher mit dem Aufstieg der völkischen Bewegung. Ihr radikaler Antisemitismus stand im Gegensatz zu den Interessen der Kirche und der feudalen Kreise. Zwar sei der Rassenhass seinerzeit in allen europäischen Ländern vorhanden gewesen, in Deutschland aber besonders vehement. Massing begründete diese Entwicklung damit, dass die bürgerliche Klasse schwach gewesen sei. Der Träger der nationalen Idee war die Aristokratie. Das Kaiserreich als ein hoch industrialisierter Staat mit einer vorindustriellen politischen Struktur habe für die Mehrheit der Bevölkerung wenige Partizipationsmöglichkeiten geboten. Somit durchzog die Gesellschaft ein Kastengeist. Der Protest gegen die Moderne richtete sich vornehmlich gegen den Liberalismus und ihre vermeintlichen Profiteure. Der völkische Antisemitismus warf den Juden vor, unproduktiv zu sein und den deutschen Rassekörper zu schänden. Er war voller (sexueller) Projektionen und Verschwörungsmythen und antizipierte die nationalsozialistische Judenfeindschaft.
Den Niedergang der völkischen Bewegung nach 1895 erklärte Massing mit dem Aufstieg des deutschen Imperialismus. Die nationalistische Ideologie vereinigte widerstrebende gesellschaftliche Kräfte von Konservativen bis Liberalen, Katholiken, Antisemiten und Freisinnigen.
Der letzte Teil behandelt die wichtigste politische Kraft, die sich den Antisemiten entgegenstellte: die Sozialdemokratie. Allerdings war die Haltung der Sozialisten teilweise ambivalent. Massing untersuchte detailliert ihre Positionen. Er bezeichnete sie als "die standhafte Opposition gegen jede Art von Antisemitismus". (159) Sie habe die "Judenfrage" aber ausschließlich als Ausdruck der kapitalistischen Klassengesellschaft gesehen. In der Arbeiterbewegung seien zu Beginn auch judenfeindliche Auffassungen vertreten gewesen, aber mit der Dominanz des marxistischen Flügels zurückgedrängt worden. Neben der ideologischen Ablehnung der Judenfeindschaft sei die Sozialdemokratie gegen die Antisemiten vorgegangen, auch weil Stoecker versuchte, Arbeiter für sich zu gewinnen. Die orthodoxen Marxisten lehnten den Antikapitalismus der antisemitischen Agitatoren ab und kamen nicht in die Versuchung, ein Bündnis mit ihnen einzugehen.
Massing betonte, dass die Jahre des Sozialistengesetzes 1878 bis 1890 zugleich die Zeit des Kampfes der Sozialdemokratie gegen den Antisemitismus war. Danach habe sich ein Determinismus durchgesetzt, der von einem notwendigen Untergang des Kapitalismus ausging. Die politische Aktion sei unwichtiger geworden und die Sozialdemokratie in einer Pose des Abwartens verharrt. Obwohl sich Engels weiterhin klar gegen den Antisemitismus positionierte, sahen Bebel und andere Parteigrößen keine Notwendigkeit mehr entschlossen dagegen vorzugehen, weil sie hofften, dass die sozial deklassierten Judenfeinde schließlich ihren Weg zur Sozialdemokratie finden würden. Eine wichtige Rolle dabei spielte Franz Mehring, der gleichermaßen gegen den Anti- wie gegen den Philosemitismus polemisierte. Er habe dazu beigetragen, "dass die Gleichgültigkeit gegenüber der 'Judenfrage' und dem Antisemitismus unter den Sozialisten weiter um sich griff, dass in der Partei jene Indifferenz gepflegt wurde, die ihr später, angesichts der nationalsozialistischen Judenhetze eine passive und beklemmte Haltung aufzwang". (202)
Bis zum Ersten Weltkrieg entwickelte sich die Sozialdemokratie zu einer bedeutenden Kraft von der kommunalen bis zur nationalen Ebene. Damit gewannen reformistische und nationalistische Positionen an Gewicht. Den Antisemitismus verortete sie nicht mehr in Deutschland, sondern im zaristischen Russland. Der Glaube an den unaufhaltsamen Fortschritt ließ sie die vom Antisemitismus ausgehende Gefahr unterschätzen. Seine Wirkmächtigkeit verkannt zu haben, nannte Massing naiv, merkte aber an: "noch hatte die Geschichte sie nicht widerlegt." (220)
Massing gelang eine analytische Gesamtdarstellung des Antisemitismus im Kaiserreich. Dabei band er dessen Entwicklung nachvollziehbar an die politischen und ökonomischen Veränderungen zurück. Das Buch übersteigt den Erkenntnisgehalt vieler aktuellerer Veröffentlichungen zum Antisemitismus. Deshalb bleibt zu hoffen, dass es eine große Leserschaft findet.
Sebastian Voigt