Ulrich Sieg: Vom Ressentiment zum Fanatismus. Zur Ideengeschichte des modernen Antisemitismus, Hamburg: EVA Europäische Verlagsanstalt 2022, 318 S., ISBN 978-3-86393-135-3, EUR 28,00
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Der an der Universität Marburg als außerordentlicher Professor lehrende Ulrich Sieg verfasste bereits mehrere einschlägige Werke zur Geschichte der modernen Judenfeindschaft. [1] Nun hat er eine Sammlung seiner Aufsätze zur Ideengeschichte des Antisemitismus vorgelegt. Sie sind ein Resultat seiner Beschäftigung mit der Thematik aus den letzten 25 Jahren.
Das Buch teilt sich nach einer Einleitung in vier Teile, die jeweils zwei bis drei Aufsätze umfassen und vor allem das Kaiserreich und die Weimarer Republik abdecken.
Die Themen spiegeln die Expertisen des Autors vom Neukantianismus, über die Philosophie in Marburg, die generelle Situation in der hessischen Universitätsstadt und die Rolle Paul de Lagardes wider.
Zu Beginn betont der Autor, dass die historische Bedeutung des Antisemitismus schwer zu fassen sei. Diese Nichtgreifbarkeit liege nicht an der mangelnden Fachliteratur, sondern "in der Sache selbst" (9). Bei aller Kontinuität weise der Antisemitismus doch deutliche historische Konjunkturen auf. Die Judenfeindschaft habe im frühen Kaiserreich in den 1870er Jahren eine neue Form angenommen. Allerdings verwahrt sich Ulrich Sieg dagegen, von einer antisemitischen Konsensgesellschaft in der damaligen Zeit zu sprechen. Vielmehr geht es ihm um die "Schattenlinien des Kaiserreichs", die er im ersten Abschnitt behandelt.
Diese Schattenlinien diskutiert er zunächst anhand jüdischer Philosophen, wie Moritz Lazarus und Hermann Cohen, die nicht nur auf die klassische deutsche Denktradition und ihre universalen Postulate rekurrierten, sondern sich trotz aller Ablehnung und Feindschaft fest in einer deutsch-jüdischen Gemeinschaft verankert wähnten. Das Aufkommen des völkischen Antisemitismus in den 1870er Jahren verschärfte die Rahmenbedingungen für jüdische Intellektuelle. Eine deutsch-jüdische Symbiose stellte sich immer mehr als ein frommes Wunschdenken heraus, an dem nur noch wenige festhielten. Im folgenden Aufsatz erläutert Ulrich Sieg die Schwierigkeiten und die Hürden für jüdische Geisteswissenschaftler an den deutschen Universitäten. Einzelne hatten bei großer Entbehrung und gegen alle Widerstände Erfolg. Sie blieben allerdings die Ausnahme.
Im folgenden Kapitel "Fanatismus vor Gericht" behandelt der Autor zunächst den "Marburger Antisemitismusprozess" von 1888. Die Universitätsstadt hatte sich mittlerweile zu einem Zentrum des nordhessischen Antisemitismus entwickelt, wo der fanatische Hetzer Otto Böckel beachtliche Wahlerfolge erzielte. Einer seiner Anhänger, der Lehrer Ferdinand Fenner, hatte die ethische Substanz des Talmuds in Frage gestellt und stand nun wegen Diffamierung vor Gericht. Erstmals verhandelte die deutsche Justiz die jüdische Religion. Dementsprechend groß war das öffentliche Interesse und prominent die Gutachter der beiden Parteien. Für Ferdinand Fenners Position trat der Orientalist Paul Anton Bötticher ein, der inzwischen den Nachnamen de Lagarde angenommen hatte. Das Judentum als Religion verteidigte der Philosoph Hermann Cohen. Letztlich verurteilte das Gericht den Angeklagten zu zwei Wochen Gefängnis und zur Übernahme der Prozesskosten. Das Urteil stellte keine Seite vollauf zufrieden. Ulrich Sieg argumentiert, dass sich Hermann Cohens scheinbarer Erfolg bei genauerem Hinsehen deutlich relativiere. Sein auf die klassische deutsche Philosophie zurückgehender Universalismus hatte dem Antisemitismus in der alltäglichen Auseinandersetzung letztlich nicht viel entgegenzusetzen.
Die Bedeutung Paul de Lagardes für die Entwicklung des Antisemitismus und die völkische Bewegung behandeln die beiden nächsten Kapitel. Bei der Radikalität de Lagardes sei es auch nicht verwunderlich, dass Adolf Hitler seine Schriften intensiv studiert habe, so Ulrich Sieg.
Im folgenden Kapitel beschreibt der Autor die Gefährlichkeit ideologisierter Wissenschaft am Beispiel des problematischen Umgangs mit Friedrich Nietzsche in den deutschen Universitäten, dem nationalsozialistischen Wissenschaftsverständnis und dem schwierigen Stand des Neukantianismus. Zusammenfassend schreibt er: "Der Neukantianismus gefährdete zwei Lieblingsvorstellungen deutscher Mandarine. Zum einen bestritt er, dass es in der Wissenschaft pure Faktizität gebe. Schon in der Auswahl der Erkenntnisgegenstände und Vorgehensweisen lägen Vorannahmen [...]. Zum anderen stellte der Neukantianismus die überzeitliche Gültigkeit wissenschaftlicher Aussagen in Frage." (194) Damit stand der Neukantianismus quer zum hegemonialen Wissenschaftsverständnis deutscher Universitäten.
Das abschließende Kapitel "Zukunftshoffnungen" behandelt die Philosophie des späten Paul Natorp, des Marburger Professors und Schülers Hermann Cohens, und die Debatten über den Gesellschafts- und Gemeinschaftsbegriff unter anderem anhand der Schriften von Helmuth Plessner.
Die versammelten Aufsätze Ulrich Siegs stellen Nachdrucke aus unterschiedlichen (Fach-)Zeitschriften zwischen 1996 und 2020 dar. Damit ist auch schon implizit die Problematik des Buches genannt. Den unterschiedlichen Artikeln fehlt der rote Faden und dem Autor gelingt es nur partiell, die Kohärenz in der Einleitung herzustellen. Für sich genommen sind die einzelnen Aufsätze interessant, aber ihre Zusammenstellung eignet sich nur bedingt für eine Monografie. Trotz dieses Mankos vermittelt die Lektüre einen erkenntnisreichen Aufschluss über wichtige Einzelaspekte der Ideengeschichte der Judenfeindschaft in Deutschland.
Anmerkung:
[1] Ulrich Sieg: Aufstieg und Niedergang des Marburger Neukantianismus. Die Geschichte einer philosophischen Schulgemeinschaft, Würzburg 1994; ders.: Deutschlands Prophet. Paul de Lagarde und die Ursprünge des modernen Antisemitismus, München 2007; ders.: Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg. Kriegserfahrungen, weltanschauliche Debatten und kulturelle Neuentwürfe, Berlin 2001.
Sebastian Voigt