Ulrich Sieg: Deutschlands Prophet. Paul de Lagarde und die Ursprünge des modernen Antisemitismus, München: Carl Hanser Verlag 2007, 415 S., ISBN 978-3-446-20842-1, EUR 25,90
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Die Göttinger Sozietät der Wissenschaften hat ihren Sitz im "Lagarde-Haus". Dabei handelt es sich um die ehemalige Villa eines gelehrten Orientalisten, der sein wissenschaftliches Leben einem der Großprojekte geweiht hatte, an denen das 19. Jahrhundert besonders reich war: einer textkritischen Ausgabe des Alten Testaments.
Geboren wurde Paul de Lagarde, der Stifter des Gebäudes, in dem immer noch an der von ihm konzipierten Edition geforscht wird, 1827 unter dem deutlich weniger eindrucksvollen Namen Paul Bötticher. Böttichers Vater war protestantischer Geistlicher. Es war daher kaum überraschend, dass Paul sich nach einer offenbar teilweise national bewegten Gymnasialzeit zum Studium der Theologie und alten Sprachen in Berlin entschloss. Sprachen wurden Böttichers Leidenschaft und - modern gesprochen - "Kernkompetenz". 1850 starb sein Vater, 1851 habilitierte sich Bötticher, der sich inzwischen der besonderen Patronage einer Großtante namens Ernestine de Lagarde erfreute, an der Universität Halle als Privatdozent der Orientalistik.
In den nächsten Jahren ging Bötticher neben Reisen zu nationalen Erinnerungsorten Deutschlands mit einem großzügigen Stipendium der preußischen Regierung nach London und Paris, um Kontakte zu knüpfen (er agierte unter anderem als Privatsekretär des preußischen Gesandten Bunsen, der in hohem Maße an der Geschichte des alten Orients und den ursprünglichen Quellen des Christentums interessiert war) und um an orientalischen Manuskripten der Bibliothèque Impériale zu arbeiten und erste Editionen vorzulegen. Trotz scheinbar glänzender Anlagen scheiterte der Versuch Böttichers, dessen Werke sich keineswegs allgemeiner Zustimmung in der Zunft erfreuten, eine Professur zu erhalten. Er entschied sich daher notgedrungen für den Beruf des Gymnasiallehrers, heiratete und nahm den Namen de Lagarde an. Trotz einer gesicherten Stellung in Berlin, die ihm ermöglichte, weiter zu forschen und zu publizieren, trachtete de Lagarde weiter nach der Anerkennung, die nur ein reiner Forschungsposten, idealerweise auf einem Lehrstuhl, sichern konnte; in diesem Sinne schrieb er an alle althistorischen, theologischen und orientalistischen Autoritäten, denen er habhaft werden konnte, direkte fordernde Briefe. 1865 schrieb er, als alles nicht fruchtete, direkt an den König, um den Monarchen von seinem Projekt einer neuen, kritischen Ausgabe der Septuaginta zu begeistern. Überraschend war, dass diese Eingabe von Erfolg gekrönt wurde, zunächst durch ein zweijähriges Stipendium, 1869 schließlich durch den Ruf auf eine Professur für Orientalistik in Göttingen, die de Lagarde bis zu seinem Tode 1891 innehatte.
Die Septuaginta-Edition, die sich zu einem immer größeren Projekt auswuchs, wurde - wie viele editorische Großvorhaben des 19. Jahrhunderts - nicht vollendet; dieses wissenschaftliche Scheitern, wenn auch am vermutlich Unmöglichen, sollte de Lagarde zunehmend belasten und das Kultusministerium schließlich angesichts immer verstiegenerer Forderungen nach Unterstützung an seiner geistigen Gesundheit zweifeln lassen.
So weit, so mäßig interessant - ein eher typisches Gelehrtenleben, in dem sich nach anfänglichen Widrigkeiten doch noch der ersehnte Erfolg einstellt. Wäre es dabei geblieben, so hätte Ulrich Sieg wohl kaum einen Grund gesehen, eine herausragende Biographie einer Schlüsselfigur der deutschen Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts vorzulegen. Zwar tritt in dem vorliegenden Buch auch der Orientalist plastisch hervor, aber die Frage, was de Lagarde in seinem eigentlichen wissenschaftlichen Gebiet genau herausfand, steht dennoch nicht im Mittelpunkt des Buches. Denn de Lagarde war einerseits wissenschaftlich exakter, zumindest in Grenzen skrupulöser, mit der frühen Geschichte einer der zentralen Texte des Judentums befasster Philologe und Theologe; andererseits zunehmend fanatischer Antisemit, der sich nicht nur seit den 1850er Jahre von einer jüdischen Verschwörung umgeben sah, die ihn persönlich und die deutsche Nation im Allgemeinen an der Entfaltung ihrer Möglichkeiten hinderte. Wissenschaft und Antisemitismus flossen zunehmend ineinander, als de Lagarde zunehmend in den ihm zugänglichen Texten nach Belegen für Kernelemente der antisemitischen Anschuldigungen wie Ritualmordpraktiken suchte und bemüht war, deren Existenz auch vor Gericht zu belegen und so aktenkundig zu machen. Mit der Forschung ging es nicht zuletzt deswegen so langsam voran, weil de Lagarde sich immer wieder und immer öfter die Zeit nahm, um nationalistische und antisemitische Schriften zu verfassen: die sehr erfolgreichen "Deutschen Schriften" oder "Juden und Indogermanen".
Die Biographie Ulrich Siegs muss sich daher mit drei Rätseln auseinandersetzen: mit der Verbindung aus Wissenschaft und Vorurteil, die merkwürdigerweise de Lagardes Stellung in der wissenschaftlichen Kommunität kaum gefährdete; mit der Anziehungskraft relativ konfuser Texte auf das deutsche Bildungsbürgertum des 19. Jahrhunderts und die Ideologen des Nationalsozialismus, vor allem Rosenberg; schließlich damit, warum de Lagarde als einer der Begründer der spezifisch deutschen Prägung des modernen Antisemitismus weitgehend vergessen wurde und weiterhin als Philologe geehrt bleibt. Das geschieht durch die in eine profunde Rekonstruktion der Biographie de Lagardes eingebettete souveräne Interpretation der Schriften durch einen der besten heutigen Kenner der Ideen- und Geistesgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts in Deutschland. Ganz kann auch Sieg nicht erklären, was de Lagarde auf seinen fatalen Weg führte und was die besondere Anziehungskraft des spröden Egomanen erklärt; denn auf allzu leichte Erklärungen lässt sich Sieg an keiner Stelle ein, etwa die Zurücksetzungen, die de Lagarde im Laufe seiner Stellensuche erfahren musste oder den offenbar gestörten familiären Hintergrund. Aber er breitet ein Panorama der Faktoren aus, die man zur Beantwortung dieser Frage kennen muss - die Neigung zu Mystizismus und Selbstüberhebung, die Anziehungskraft einer nationalen Mission und rassischen Kategorien, die Verbindung von Antikenstudium und Gegenwartsbezug in der Orientalistik - an einem Beispiel, aber in allgemeiner Absicht. Man darf dem glänzend geschriebenen Buch eine möglichst weite Verbreitung, vielleicht auch in Form einer Studien- oder Taschenbuchausgabe, wünschen - die Lektüre wird alle fesseln, die sich mit der Frage nach einem deutschen Sonderweg oder mit den Beziehungen zwischen deutschem Bildungsbürgertum, deutschen Juden und Antisemitismus auseinandersetzen.
Andreas Fahrmeir