Pınar Ãœre: Reclaiming Byzantium. Russia, Turkey and the Archaeological Claim to the Middle East in the 19th Century, London / New York: I.B.Tauris 2021, VII + 212 S., ISBN 978-0-7556-3723-2, USD 35,95
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Das Russische Archäologische Institut in Konstantinopel (Русский археологический институт в Константинополе - fortan RAIK) wurde 1895 auf Initiative der beiden russischen Byzantinisten Fedor Ivanovič Uspenskij (Фëдор Иванович успéнский, 1845-1928) und Nicolim Pavlovič Kondakov (Никодим Павлович Кондаков, 1844-1925) in der Hauptstadt des Osmanischen Reiches gegründet. 20 Jahre lang konnte dort kontinuierlich gearbeitet werden, bis das RAIK nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 seine Pforten wieder schließen musste. Das vorliegende Buch von Pınar Üre, die überarbeite Fassung einer 2014 unter der Betreuung des britischen Osteuropahistorikers Dominic Lieven an der London School of Economics and Political Science angenommenen Dissertation, befasst sich mit der - am Ende doch recht kurzen - Geschichte dieses Instituts.
Das 19. Jahrhundert war geprägt von der Institutionalisierung der Archäologie als wissenschaftliche Disziplin, insbesondere in Europa. Die Erforschung der antiken Welt bot den Forscher*innen ein Fenster, durch das sie vermeinten, die Ursprünge der europäischen Zivilisation betrachten zu können. Dies war zu jener Zeit eine sehr verbreitete, letztlich jedoch natürlich zutiefst eurozentrische Perspektive. Es verwundert in diesem Zusammenhang ein wenig, dass Pınar Üre ihre Analyse des RAIK nicht in Verbindung setzt zu dem Diskurs, der sich mit dem 1978 von dem Literaturwissenschaftler Edward Said veröffentlichten Buch Orientalism verbindet. Der orientalistische Diskurs macht sich - Edward Said zufolge - die geordnete Welt untertan und somit verfügbar. Er hält sich allein an Regeln, die er selbst aufgestellt und gegebenenfalls auch selbst modifiziert hat. Auch wenn dies nicht immer so direkt wie im Imperialismus erkennbar ist, zielt der orientalistische Diskurs in letzter Konsequenz sowohl auf Herrschaftsausübung und Machtetablierung wie auf die Etablierung und Erklärung der kulturellen Hegemonie des Westens ab. Orientalismus war, so Said weiter, letzten Endes eine Erscheinung des 19. Jahrhunderts. Hatte die Auseinandersetzung mit dem Orient im 17. und 18. Jahrhundert hin und wieder noch dialogischen Charakter, mündete sie schließlich in einen Monolog des Westens über einen von ihm selbst konstruierten Gegenstand. Die modernen europäischen Reiche definierten sich eben auch als die geistigen Erben und damit legitime Nachfahren der antiken Zivilisationen im Mittelmeerraum und im Nahen Osten. Dabei konkurrierten die europäischen Mächte miteinander um die Entdeckung von Pfadabhängigkeiten und um die Deutung archäologischer Funde. Der Erfolg archäologischer Aktivitäten wurde dabei zunehmend mit nationalem und imperialem Prestige verbunden. Nationale Museen wie der Louvre, der Prado, das Rijksmuseum, das Museu Nacional de Arqueologia oder das Britische Museum verkörperten dabei imperiale Präsenz und imperialen Anspruch ebenso wie die zahlreichen archäologischen Institutionen, die man im 19. Jahrhundert gründete. Als Beispiele seien hier nur genannt: die British Archaeological Association (1843), die Glasgow Archaeological Society (1856), das Deutsche Archäologische Institut (1832), das Institut français d'archéologie orientale in Kairo (1880) oder der Archaeological Survey of India (1861).
Die 1846 in St. Petersburg ins Leben gerufene Imperiale Russische Archäologische Gesellschaft (Императорское Русское археологическое общество) fügt sich somit bestens in diesen Rahmen ein. Die Entscheidung, ein Archäologisches Institut in Istanbul zu gründen, muss in einem sehr speziellen russischen Kontext gesehen werden: Seit der Eroberung Konstantinopels (das von Konstantin 330 als "Neues Rom" gegründet worden war und erst nach seinem Tod 337 seinen Namen erhielt) durch die Osmanen im Jahre 1453 sei der legitime Erbe der Orthodoxie das Großfürstentum Moskau. Diese translatio imperii und die damit evozierte Idee, dass Russland dadurch seine Sendung als universales Reich und religiöser Erlöser der Welt erhalten habe, hatte sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zu einem wirkmächtigen Diskurs innerhalb führender Eliten des Zarenreiches entwickelt. Das RAIK, das im Rahmen der Verwaltungsstruktur der russischen Botschaft in Konstantinopel/Istanbul eingerichtet wurde, nahm von Beginn an einen Platz an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Politik ein. Die Aktivitäten des Instituts, das sich fast ausschließlich mit byzantinischen und slawischen Altertümern im Osmanischen Reich befasste, spiegelten die imperiale Selbstwahrnehmung Russlands um die Jahrhundertwende wider.
Pınar Üres Studie stützt sich auf russische und osmanische Quellen, in erster Line auf die offizielle Korrespondenz zwischen dem RAIK und russischen Diplomaten, verschiedenen Ministerien, Regierungsstellen und der osmanischen Regierung sowie auf persönliche Briefe von RAIK-Mitgliedern, insbesondere auf diejenigen des Direktors des Instituts, Fedor Ivanovič Uspenskij. Hinzu kommen Schreiben an das zaristische Ministerium für Volksbildung (Министéрство нарóдного просвещéния) sowie Ausgrabungs- und Expeditionsberichte.
Zunächst behandelt die Verfasserin die Entwicklung der akademischen Archäologie und Byzantinistik im Russischen Reich. Ihr gelingt es sehr gut, sowohl die besondere Stellung dieser Disziplin innerhalb des russischen Wissenschaftssystems wie auch das Bild von Byzanz im russischen Denken des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu umreißen. Es schließen sich erhellende Erläuterungen zur osmanischen Wahrnehmung ausländischer Archäologen und der von ihnen durchgeführten, umfangreichen Grabungskampagnen (zum Beispiel in Troia, Pergamon, Ephersus, Priene, Milet oder Didyma) an. In der osmanischen Kulturpolitik fand in dieser Zeit ein bemerkenswertes Umdenken statt, das nicht nur eine Reihe von Antikenverordnungen (1869, 1874, 1884 und 1906) hervorbrachte, sondern 1881 auch zur Gründung eines eigenen Reichsmuseums (müze-i hümayun) für Archäologie führte, dessen erster Direktor der Intellektuelle, Künstler und Archäologe Osman Hamdi Bey (1842-1910) wurde.
Pınar Üre weist zu Recht darauf hin, dass die osmanische Wertschätzung der byzantinischen Denkmäler und der byzantinischen Geschichte nur vor dem Hintergrund zunehmender Modernisierungsbestrebungen innerhalb des Osmanischen Reiches zu verstehen sind. In Kapitel 3 wird die Gründung der RAIK und ihrer Schwesterorganisation, der Imperialen Rechtgläubigen Palästina-Gesellschaft, (Императорское православное палестинское общество, gegründet 1882), die im Heiligen Land russisch-orthodoxe Pilger*innern unterstützen und russische Interessen vertreten sollte, erläutert. Darüber hinaus untersucht die Verfasserin die zahlreichen diplomatischen und akademischen Bemühungen um die Gründung des archäologischen Instituts. Dabei kommen auch alternative Projekte wie etwa die Idee, das Institut lieber in Athen zu errichten, zur Sprache. Wir hören sozusagen die Stimmen der Bürokraten und Diplomaten, die die Gründung des RAIK unterstützt haben, die Positionen des Außenministeriums, des Ministeriums für Volksbildung, des Heiligen Synods und des Zaren selbst. Ferner lernen wir die bürokratischen Strukturen ebenso kennen wie die Verbindung des neuen Instituts zur russischen Botschaft in Istanbul und zur russischen Regierung in St. Petersburg.
In den folgenden Teilen erhalten wir viele interessante Informationen zu den wissenschaftlichen Tätigkeiten des RAIK. Die archäologischen Expeditionen nach Bulgarien, an die Schwarzmeer-Küste, nach Makedonien und in Istanbul werden thematisiert und die nicht immer einfachen Interaktionen zwischen dem Institut und der osmanischen Verwaltung ausführlich beschrieben. Besonderes Augenmerk legt Pınar Üre auf die geplanten Aktivitäten des RAIK auf dem Balkan. 1911wurde innerhalb des Instituts eine slawische Abteilung eingerichtet. Dahinter stand das Bestreben, auf dem Balkan archäologische Ausgrabungen unter russischer Kontrolle zu betreiben. Zuvor hatte es Uspenskij bereits geschafft, dass man 1901 in Bulgarien eine Archäologische Gesellschaft ins Leben gerufen hatte. Letzten Endes scheiterte das Projekt an den schwierigen politischen Umständen in der Region, die schließlich 1912 in den Ersten Balkankrieg mündeten. Das letzte Kapitel der Studie blickt auf die Entwicklungen nach 1914 und skizziert prägnant die radikalen politischen Veränderungen im Russischen und Osmanischen Reich. Sowohl in der UdSSR wie auch in der Türkischen Republik entwickelten sich vollkommen neue soziale Ordnungen mit neuen Weltsichten und Ideologien. Archäologie und Byzantinistik gab es zwar weiterhin, doch sie hatten sich den veränderten Bedingungen anzupassen.
Pınar Üre hat ein sehr spannendes Buch vorgelegt, das anhand des Russischen Archäologischen Instituts in Konstantinopel ausgezeichnet das Zusammenspiel zwischen Archäologie und Politik zeigen kann. In Deutschland sind wir uns dieses Zusammenhangs wohl bewusst. Exemplarisch für eine politisierte und an Propagandazwecken ausgerichtete Archäologie kann etwa die Ur- und Frühgeschichte der NS-Zeit angeführt werden.
Stephan Conermann