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Alexander Bauer / Gül Sen: Transottomanica: Verflechtungen und Mobilitäten. Einführung, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 9 [15.09.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/09/forum/transottomanica-verflechtungen-und-mobilitaeten-269/

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Transottomanica: Verflechtungen und Mobilitäten

Einführung

Von Alexander Bauer / Gül Sen

"Transottomanica: Osteuropäisch-osmanisch-persische Mobilitätsdynamiken" ist ein Schwerpunktprogramm (SPP) der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) (https://www.transottomanica.de/), koordiniert von der Universität Leipzig unter der Federführung des Osteuropa-Historikers Stefan Rohdewald, der auch als Sprecher des SPP fungiert. Das Programm wurde zunächst für den Zeitraum 2017-2020 mit 15 Forschungsprojekten (neben einer Reihe von angeschlossenen Projekten) und für den Zeitraum 2020-2023 mit 14 Projekten gefördert, die an 13 Universitäten und Forschungszentren in Deutschland angesiedelt sind. Diese überregional kooperierten Projekte untersuchen den "transosmanisch" genannten Verflechtungsraum zwischen dem Osmanischen Reich, Russland, Polen-Litauen und Iran. Es werden dabei die verschiedenen Verflechtungen, die sich durch die Mobilität von Menschen, Wissen und Gütern ergeben haben, im Zeitraum vom frühen 16. Jahrhunderts bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts analysiert.
In diesem thematischen Forum werden anhand der 11 besprochenen Werke die vielfältigen Aspekte der Interaktion zwischen dem Osmanischen Reich und dem Russischen Reich sowie Verflechtungen innerhalb von Imperien auf verschiedenen Ebenen in einer langfristigen Perspektive aufgezeigt. Die militärgeschichtlichen Themen, die bisher den Schwerpunkt der Forschung gebildet hatten, werden in den vorliegenden Studien um Ansätze aus der kulturhistorischen Imperienforschung, der Sozialgeschichte, der Osteuropastudien sowie der area studies erweitert. Wir möchten auch auf neuere Arbeiten in russischer und türkischer Sprache hinweisen.
Die ersten beiden der hier besprochenen Werke sind der konfessionellen Dimension dieser Beziehungen gewidmet. Pissis befasst sich in seiner theoriebasierten Monographie mit der Perzeption der russischen Politik unter den griechischen Eliten im Osmanischen Reich vor dem Hintergrund der politischen und religiösen Diskurse in Russland und der Hinwendung der strategischen Interessen Moskaus in Richtung der südlichen Grenzen seit der Mitte des 17. Jahrhunderts bis 1725. Anhand der Konfessionalisierungsprozesse wird rekonstruiert, auf welche Weise die griechischen Untertanen des Sultans eine Befreiung vom osmanischen "Joch" erwarteten und dabei ein Narrativ vom Zaren als Schutzpatron der orthodoxen Christenheit pflegten (Kusber zu Pissis). Ragaz hat eine religionswissenschaftliche Studie vorgelegt, die methodisch und inhaltlich zudem Ansätze der Neuen Imperiengeschichte aufgenommen hat/aufgreift. Dabei werden die Prozesse der Herausbildung von Religionskonzepten im Zarenreich durch das Prisma orientalisierender Narrationen von Islam, Schiismus, Buddhismus, Zoroastrismus und Schamanismus untersucht (Bauer zu Ragaz). Im Rahmen imperialer Politik und Diskurse beschäftigt sich Üre mit dem Russischen Archäologischen Institut in Konstantinopel und seinen Tätigkeiten in der spätosmanischen Zeit (Conermann zu Üre).

In diesem Sinne stellt auch der von Boltunova und Sunderland herausgegebene Band einen Beitrag zur Neuen Imperiengeschichte dar. Der dabei gewählte Ansatz der Regionalgeschichte, in dem die Regionen innerhalb eines Imperiums wie auch grenzüberschreitende Regionen in den Blick genommen werden, eröffnet innovative Perspektiven für globalhistorische und transregionale Ansätze (Bauer zu Boltunova und Sunderland). Das Verhältnis zwischen imperialer Herrschaft und der Peripherie untersucht auch Rolf in seiner Monographie am Beispiel des Königreichs Polen. Dabei gelingen ihm aufschlussreiche Einblicke in die Dynamiken dieser mannigfaltigen Wechselbeziehung, die sich kaum mit den Vorstellungen von einer bloßen Kolonisierung fassen lässt (Sach zu Rolf).

Zwei Werke widmen sich der Geschichte der Halbinsel Krim im Rahmen der Imperienforschung. Ihre geographische Lage ließ die Halbinsel über Jahrhunderte hinweg verschiedenen Herrschaftsräumen und Imperien zufallen. Insofern scheint uns gerade die Krim ein wichtiges Objekt für transosmanisch angelegte Studien zu sein. Anhand einer longue durée führt Jobst in ihrem Standardwerk auf mehreren Ebenen von der Siedlungs- bis zur Ideologiegeschichte durch ein Jahrtausend der Geschichte der Krim (Kusber zu Jobst). Im Gegensatz dazu haben sich Güneş Yağcı and Akkaya mit ihrer Edition des Gerichtsregisters der Krim aus dem Jahr 1699-1700 der Mikrogeschichte zugewandt. Anhand der Einträge in diesem Register weisen sie auf die Folgen hin, die die offenbar werdende Schwäche des Osmanischen Staates gegenüber seinen christlichen Nachbarn für den Alltag der Krimtataren hatten (Şen zu Güneş Yağcı and Akkaya).

Der Militär- und Imperiengeschichte wenden sich Smiljanskaja und Lejkin mit ihrer kommentierten Edition in russischer Sprache von John Elphinstones englischsprachigen Bericht über seinen Dienst in der russischen Marine im Jahr 1770 zu. Dabei werden die mannigfaltigen Verflechtungen vor dem Hintergrund der osmanisch-russischen Auseinandersetzungen sichtbar (Bauer zu Smiljanskaja und Lejkin). Ein wichtiger Punkt bei den Friedensverhandlungen zwischen den Imperien war die Behandlung von Kriegsgefangenen. Ãœberhaupt gehörten die Gefangenschaft und der Austausch von Gefangenen wohl zu den wesentlichsten Kanälen von grenzüberschreitender Mobilität und den Verflechtungsprozessen zwischen den Imperien. Sel Turhans Studie zu diesem Phänomen setzt sich, mit einem Schwerpunkt auf die osmanische Praxis im 18. Jahrhundert, besonders mit den juristischen und politischen Modalitäten des Gefangenenaustauschs auseinander (Şen zu Sel Turhan).
Auf die andere Seite der osmanisch-russischen Grenze führt uns Taki in seiner Untersuchung zur russischen Besatzungspolitik in den Donaufürstentümern zwischen den Napoleonischen Kriegen und dem Krimkrieg. Darin verweist er auf die Bedeutung dieser Territorien für das politische und religiöse Selbstverständnis des Zarenreichs und das Selbstbild Russlands als Beschützer der orthodoxen Bevölkerung im Osmanischen Staat. Dabei referiert er nicht nur die zeitgenössischen Wahrnehmungen und Selbstbilder, sondern auch die Rezeption dieser Politik in der türkischen und der russischen Geschichtsschreibung (Karabıçak zu Taki).

Wie sich die regionale und soziale Vielfalt von Imperien auch in deren kulinarischen Traditionen niedergeschlagen hat, demonstriert Smith in ihrer Monographie zur Geschichte der Essenskultur in Russland, in der sie einen weiten Bogen von Kiever Rus' bis zur Sowjetunion schlägt und herausarbeitet, wie sich Russlands imperiale Expansion auf kulinarische Praktiken ausgewirkt hat (Sach zu Smith).

Wir wünschen den Leser✻innen der Sehepunkte eine angenehme und instruktive Lektüre!

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