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Nadine Rossol / Benjamin Ziemann (Hgg.): Aufbruch und Abgründe. Das Handbuch der Weimarer Republik, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2021, 992 S., 35 s/w-Abb., ISBN 978-3-534-27375-1, EUR 80,00
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Rezension von:
Desiderius Meier
Universität Passau
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Desiderius Meier: Rezension von: Nadine Rossol / Benjamin Ziemann (Hgg.): Aufbruch und Abgründe. Das Handbuch der Weimarer Republik, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2021, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 4 [15.04.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/04/38023.html


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Nadine Rossol / Benjamin Ziemann (Hgg.): Aufbruch und Abgründe

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Die Geschichte der Weimarer Demokratie hat in der Bundesrepublik seit jeher einen hohen Stellenwert. Gegenwärtig ist das Interesse besonders ausgeprägt: Während eine breitere Öffentlichkeit über Parallelen zwischen gegenwärtigen Krisen und "Weimarer Verhältnissen" nachdenkt, ist der Output der historischen Forschung, auch bedingt durch die üblichen Jubiläumskonjunkturen, so voluminös, dass es selbst Spezialisten schwerfällt, den Überblick zu behalten.

Jeder Versuch, den aktuellen Erkenntnisstand zu bilanzieren, ist folglich zu begrüßen, und angesichts der stark verästelten Weimar-Forschung bedeutet der monumentale von Nadine Rossol und Benjamin Ziemann herausgegebene Sammelband, der auch in englischer Sprache vorliegt [1], einen aussichtsreichen Ansatz. In 32 Kapiteln entfalten 34 Autorinnen und Autoren, darunter zahlreiche ausgewiesene Expertinnen und Experten, ein Kaleidoskop der Weimarer Zeit, das die Vielgestaltigkeit und Ambivalenz dieser turbulenten Epoche einfängt.

Verteilt auf fünf Sektionen ("Perioden der Weimarer Republik", "Rahmenbedingungen der Politik", "Parteien und Parteimilieus", "Gesellschaft und Wirtschaft", "Kultur"), reichen die Beiträge von chronologisch angelegten Synopsen über politik- und sozialgeschichtliche Themen bis zu Facetten der Weimarer Kultur, wobei sich naturgemäß manche Überschneidungen ergeben. Die "politische Geschichte im weitesten Sinne" steht "im Mittelpunkt" (28), gemäß dem Paradigma der politischen Kulturgeschichte, das seit gut zwei Jahrzehnten die Weimar-Forschung dominiert, diese enorm bereichert hat und dem die Herausgeber sich verpflichtet fühlen: In Abgrenzung von der älteren Historiografie postulieren sie, den Fokus nicht nur auf das Scheitern der Demokratie zu richten, sondern "Weimar zu historisieren" und die "Handlungsspielräume", die "Chancen" sowie die "Fülle verschiedener möglicher Zukunftsperspektiven" ernst zu nehmen, die es aus zeitgenössischer Sicht gab (10).

Einige Aufsätze demonstrieren, wie ertragreich eine kulturhistorisch erweiterte Politikgeschichte sein kann. Dazu zählen Nadine Rossols Darstellung "republikanischer Gruppen, Ideen und Identitäten", die dem klassischen Verdikt "Republik ohne Republikaner" entgegenhält, dass die neue Staatsform lange durchaus starken Rückhalt fand, oder Thomas Mergels Beitrag "Wahlen, Wahlkämpfe und Demokratie", der unterstreicht, dass die Weimarer Geschichte sich "trotz ihres Endes [...] als die einer Demokratisierung" (221) verstehen lässt. Hinzu kommen konzise, überaus kenntnisreiche Einführungen, etwa zur Außenpolitik (Jonathan Wright), über die industrielle Arbeiterschaft (Pamela E. Sweet) oder in die Weimarer Literatur (Helmut Kiesel).

Gleichzeitig ist zu konstatieren, dass einige Beiträge weniger gelungen sind und der Band konzeptionelle Schwachstellen aufweist. Diese Defizite fallen ins Gewicht, weil er mehr sein möchte als ein (weiterer) Sammelband - nämlich ein "Handbuch", das "auch Lesern ohne Vorkenntnisse kompakte Informationen über alle wichtigen Aspekte der Gesellschaft, Kultur und Politik der Epoche" bietet (9). An diesem Anspruch muss er sich messen lassen.

Zu den Begleiterscheinungen der jüngeren Forschung zählt eine mitunter impressionistische, an eher randständige Themen geknüpfte Behandlung der Weimarer Geschichte. Nicht selten kommen dabei wichtige Zusammenhänge zu kurz, werden ergänzungsbedürftige, aber essenzielle Erkenntnisse der älteren Literatur vernachlässigt. Während in manchen Bereichen die Perspektive des Scheiterns kaum hinterfragt wird, geschieht stellenweise das Gegenteil, wenn gleichsam positive Gesichtspunkte überzeichnet und Krisenphänomene marginalisiert werden. Solche Tendenzen sind auch hier zu beobachten.

Matthew Stibbes politikgeschichtliche Zusammenschau der Jahre 1924 bis 1930 blendet die Funktionsstörungen des politischen Systems weitgehend aus. Es ist legitim, auf die "Erfolge der Koalitionsregierungen" (95) einzugehen, doch sollten die Probleme der parlamentarischen Mehrheitsbildung und die chronische Instabilität der Reichsregierungen ebenfalls Beachtung finden. Der Leser erfährt nichts über die Dauerkrise der Großen Koalition und die lagerübergreifende Kritik an Parlamentarismus und Parteiendemokratie. So bleibt der Übergang zum präsidialen Regieren im Frühjahr 1930 unverständlich.

Zu Recht messen die Herausgeber der "Analyse des politischen Föderalismus und der regionalen Strukturen und Mentalitäten" große Bedeutung bei. Wenn sie allerdings beklagen, diese Aspekte würden "selten im Detail behandelt" (29), wirkt das nicht ganz fair: Schließlich gibt es neben grundlegenden Studien wie jenen von Gerhard Schulz oder Horst Möller [2], die im ganzen Band nicht rezipiert werden, eine reichhaltige lokal-, regional- und landesgeschichtlich angelegte Forschung. Zugleich adressiert lediglich ein Aufsatz (Siegfried Weichlein) diesen Themenkreis, und die Politik auf Länderebene oder der politisch-kulturelle Wandel, der sich aus der Einschränkung der kommunalen Selbstverwaltung ergab, bleiben unberücksichtigt.

Im parteigeschichtlichen Abschnitt vermisst man den Ansatz, die Erfolge der Republik und ihrer Repräsentanten stärker zu beachten. Während Nationalsozialismus (Daniel Siemens) und Antisemitismus (Susanne Wein / Martin Ulmer) eigene Kapitel gewidmet sind, kommen die republikanischen Kräfte zu kurz. Die SPD wird gemeinsam mit der KPD (Joachim C. Häberlen), das Zentrum zusammen mit Konservatismus und radikaler Rechter behandelt (Shelley Baranowski). Letzteres irritiert nicht nur auf den ersten Blick: Im Vordergrund steht der rechte Flügel des politischen Katholizismus; kein Akteur wird so häufig erwähnt wie Franz von Papen. Die Darstellung der liberalen Parteien (Philipp Müller) akzentuiert vor allem den Verfall des Weimarer Liberalismus, seine Distanz zur Demokratie und Affinität zum Nationalsozialismus.

Bedenklich stimmt, welch untergeordnete Rolle die Wirtschaftsgeschichte spielt. Die gravierenden Probleme der ökonomischen Entwicklung, deren soziale, politische und kulturelle Rückwirkungen allgegenwärtig waren, finden gewiss an vielen Stellen Erwähnung. Eigens thematisiert werden sie aber lediglich in einem gedrängten Überblick (Jan-Otmar Hesse / Christian Marx), der zudem die entstehende Konsumgesellschaft einbezieht und somit komplexe Zusammenhänge nur skizzieren kann.

Zu dem Befund, dass allzu oft Elementares auf der Strecke bleibt, tragen zahllose Fehler bei. Max von Baden wurde nicht am 5. Oktober 1918 zum Reichskanzler ernannt (43), sondern zwei Tage früher, Philipp Scheidemann rief die Republik nicht "zeitgleich" (45) mit Karl Liebknecht aus, 1932 fand der erste Wahlgang der Reichspräsidentenwahl nicht am 5. April statt (126-127), das Ermächtigungsgesetz von 1933 ist nicht auf den 28. März zu datieren (367). Der Reichstag hob am 18. Juli 1930 nicht eine, sondern zwei Notverordnungen auf, und diese wurden danach auch nicht einfach "wieder in Kraft" gesetzt, wie Peter Caldwell im Beitrag zur Weimarer Verfassung meint (154). Dass "alle" direkten Steuern bis 1918 bei den "Ländern" lagen (234), trifft ebenfalls nicht zu. Über das Wahlverhalten der Frauen erfährt man, "die Mehrheit der Wählerinnen" habe 1919 und 1920 für Zentrum und DNVP gestimmt (376). Ebenso erstaunlich ist die Behauptung, dass die Weimarer Koalition aus der preußischen Landtagswahl im April 1932 "noch als Gewinner hervorging" (433). Diese Liste ließe sich beträchtlich erweitern. Manche Irrtümer resultieren aus den häufig ungelenken und teils fehlerhaften Übersetzungen, etwa wenn "1923 und 1924" als "Jahre der galoppierenden Inflation" bezeichnet werden (123), während es in der englischen Vorlage heißt: "the runaway inflation of the early 1920s".

Schließlich könnte das Buch handlicher sein. Es gibt ein Orts- und ein Personenverzeichnis, aber (anders als in der englischen Ausgabe) kein Sachregister. Die rund 2000 Titel umfassende "Bibliografie" (885-978) der verwendeten Quellen und Literatur bleibt ohne Mehrwert. Sinnvoller wäre es gewesen, entsprechende Verzeichnisse den einzelnen Beiträgen beizufügen, statt sich dort auf "ausgewählte" Literaturhinweise zu beschränken.

Insgesamt lässt sich der Sammelband als Synthese der politischen Kulturgeschichte der Weimarer Republik verstehen - mit allen Stärken, aber auch typischen Schwächen, die dieser Ansatz (bislang) mit sich bringt. Als "Handbuch", gar als das "neue, wegweisende Standardwerk", wie es auf dem Schutzumschlag heißt, kann man ihn insbesondere der studentischen Leserschaft nicht empfehlen.


Anmerkungen:

[1] Nadine Rossol / Benjamin Ziemann (eds.): The Oxford Handbook of the Weimar Republic, Oxford 2022.

[2] Gerhard Schulz: Zwischen Demokratie und Diktatur. Die Periode der Konsolidierung und der Revision des Bismarckschen Reichsaufbaus 1919-1930, 2, Aufl., Berlin / New York 1987; Horst Möller: Parlamentarismus in Preußen 1919-1932, Düsseldorf 1985.

Desiderius Meier