Norman Davies / Roger Moorhouse: Die Blume Europas. Breslau - Wroclaw - Vratislavia: Die Geschichte einer mittel-europäischen Stadt, München: Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. 2002, 702 S., Abb. auf 32 Bildtafeln, ISBN 978-3-426-27259-6, EUR 38,00
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Wenn über ein neues Werk zur Geschichte einer mitteleuropäischen Stadt schon vor seinem Erscheinen - in drei verschiedenen Sprachen - so viel gesprochen worden ist, wenn dann die Veröffentlichung in dieser Stadt regelrecht zelebriert wird und schließlich das Buch in den unterschiedlichsten Medien präsent ist und breites Lob erntet, darf man wohl etwas Besonderes erwarten, nicht zuletzt dann, wenn es von einem "der brillantesten Historiker der Gegenwart" (Klappentext) geschrieben worden ist. Norman Davies, Verfasser von inzwischen nahezu zu Klassikern gewordenen Werken zur neueren Geschichte Polens und zur europäischen Geschichte, und sein jüngerer Kollege Roger Moorhouse, promoviert in neuer deutscher Geschichte, scheinen als Engländer auch beste Voraussetzungen mitzubringen, die wechselvolle Geschichte einer Stadt wie Breslau, die in deutschen wie polnischen Arbeiten bis in die jüngste Zeit hinein häufig unter einem nationalen oder gar nationalistischen Blickwinkel betrachtet und gedeutet worden ist, unvoreingenommen und von einem transnationalen Standpunkt aus zu analysieren und zu schildern.
Man wird wohl nicht fehlgehen in der Annahme, dass ein nicht unerheblicher Teil des eingangs angesprochenen Echos der europäischen Warte zu verdanken ist, von der aus die beiden Verfasser den Gegenstand ihres Interesses betrachten, um die Dichotomie deutsch-polnisch aufzubrechen. Eines ihrer Kernanliegen ist ja auch ausdrücklich die Einbindung der "Ereignisse und Persönlichkeiten der Stadtgeschichte in ihren größeren regionalen und kontinentalen Kontext" (27). Ein Mittel, Ausgewogenheit zu erzielen und Verständnis beim jeweils andersnationalen Leser zu wecken, sahen Davies und Moorhouse offensichtlich in der Namenwahl: "Insel-Stadt" bis zur Jahrtausendwende, Wrotizla für die Zeit der piastischen Herrschaft bis 1335, Wretslaw für die böhmische und Presslaw für die habsburgische Epoche, Bresslau für die Jahrzehnte seit 1741 bis zur Gründung des Kaiserreichs, schließlich Breslau und seit 1945 Wrocław, Vratislavier für die Einwohner der schlesischen Metropole - ob damit das wohl gemeinte Ziel erreicht wird, mag jeder Leser für sich entscheiden.
So weit, so gut. Im Zusammenhang dieser Besprechung hat freilich nicht der ideelle Wert des voluminösen Bandes im Mittelpunkt zu stehen, sondern seine Bedeutung für die Geschichtswissenschaft, und hier ist leider als Fazit festzuhalten, dass es sich um eine streckenweise doch recht enttäuschende Darstellung handelt; ja manches - vornehmlich in den dem Mittelalter und der Habsburgerzeit gewidmeten Kapiteln - ist schlichtweg falsch. Das beginnt schon mit einer teilweise inadäquaten Terminologie und endet mit einer Anzahl sachlicher Fehler und widersprüchlicher Angaben. In den Anmerkungen - eine eigene Bibliografie fehlt leider - sucht man vergeblich nach Namen von Autoren wie Theodor Goerlitz, Ludwig Petry, Marta Młynarska-Kaletynowa oder Mateusz Goliński (um nur einige wenige herauszugreifen, die Liste ließe sich beliebig verlängern), die alle wichtige Beiträge zur Stadtgeschichte geliefert haben, oder nach der neuen Encyklopedia Wrocławia [1]. Dagegen finden sich nicht selten Bezugnahmen auf die fehlerbehafteten Arbeiten von Amateurhistorikern wie Heinrich Bartsch oder Gerhard Scheuermann. Die Darstellungsweise in den einzelnen Abschnitten zur "großen" Politik, zu Wirtschaft, Religion und Kirche, Ausbau, gesellschaftlicher und kultureller Entwicklung schwankt zwischen einem flüssigen Erzählstil und einer teilweise sprunghaften Aneinanderreihung von Fakten ohne Konsistenz.
Es erscheint wohl auch symptomatisch für eine gewisse Unsicherheit der Autoren, dass sie diesen das äußere Stadtbild bis heute weithin prägenden Epochen deutlich weniger als ein Drittel des Bandes gewidmet haben. Erheblich vertrauteren Boden betreten sie dann mit der preußischen Zeit; die Schilderung wird dichter und sicherer, ohne freilich in der Wertung immer völlig zu überzeugen; und auch hier vermisst man im Apparat wichtige Literatur. Den breitesten Raum nimmt schließlich die Darstellung der Zeit vom Ende des Ersten Weltkriegs bis zur Gegenwart ein; diese Teile bieten sicher auch für den deutschsprachigen Leser den größten Informationswert.
Positiv hervorzuheben ist zweifellos, dass die beiden Verfasser sehr häufig die Quellen selbst (in Übersetzung) sprechen lassen, sodass partiell nahezu ein "Lesebuch" entstanden ist, in das auch in der bisherigen Stadtchronistik kaum bekannte oder beachtete Texte Eingang gefunden haben. Sehr nützlich sind die vielen eingestreuten Karten und der Anhang mit Stammbäumen, einer Bischofsliste, einer Zusammenstellung "Wratislavischer Nobelpreisträger" sowie weiteren Karten und Textauszügen.
Soweit Davies und Moorhouse zum Ziel hatten, "die unterschiedlichen Formen selektiver Amnesie zu bekämpfen" und Breslau als "die verlorene Stadt der deutschen Geschichte" auch für die deutsche Geschichtswissenschaft wiederzugewinnen (27), könnte ihnen das gelungen sein, den großen Wurf, die "definitive" Geschichte der Odermetropole, bietet der Band aber sicher noch nicht.
Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
Anmerkung:
[1] Vgl. die Besprechung von Gregor Thum in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 50 (2001), S. 288.
Winfried Irgang