Loris Petris: La plume et la tribune. Michel de L'Hospital et ses discours (1559-1562). Suivi de l'édition du De initiatione Sermo (1559) et des Discours de Michel de L'Hospital (1560-1562) (= Travaux d'Humanisme et Renaissance), Genève: Droz 2002, XXVII + 610 S., ISBN 978-2-600-00646-0, CHF 120,00
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Nach Jahrzehnten, in denen die Forschung ihn eher en passant behandelte, sind nun innerhalb von sechs Jahren drei Monografien zum vielleicht berühmtesten Kanzler Frankreichs in der Frühen Neuzeit erschienen, dem einst missverständlich als "Apostel der Toleranz" verklärten Michel de L'Hospital (etwa 1505-1573): zunächst 1997 die kurze Studie von Seong-Hak Kim, dann 1998 der 600-seitige Text von Denis Crouzet, nun das große Buch von Petris. Insbesondere Crouzets und Petris' Arbeit konkurrieren darum, wer das bessere intellektuelle Porträt vorlegt. In jeder Hinsicht scheint mir hier die höchst sorgfältige, gelehrte und zugleich souverän und elegant geschriebene Studie von Petris den Preis davonzutragen. Petris' Buch enthält zugleich eine editorische Meisterleistung sowie eine monografische Interpretation zu Werk und Charakter Hospitals. Zunächst sei der Editions- und Dokumentationsteil vorgestellt.
Bis zur Arbeit von Petris beruhte der Kenntnisstand der Forschung zum Œuvre Michel de l'Hospitals letztlich auf der Werkausgabe von P.J.S. Dufey aus den Jahren 1824-1825 (Neudruck 1968), die nicht mehr den heutigen Ansprüchen an eine wissenschaftliche Edition genügt, sowie auf den Forschungen von Taillandier und Dupré-Lasale. Petris hat nun mit viel Mühe und Passion die kleinen und kleinsten Schriftstücke von der Hand Hospitals zusammengetragen und jeweils die komplizierten Überlieferungsverhältnisse zu klären versucht. In wertvollen Annexen zu seiner Monografie (183-216, 335-556) bietet er die Editionen all dieser Stücke: aller "Discours", bislang nicht bekannter Briefe und kleiner Denkschriften sowie ausgewählter Carmina. Eine kritische Gesamtausgabe der Carmina will er zusammen mit Perrine Galand Hallyn in naher Zukunft vorlegen, sodass diese Bände dann die alte Werkausgabe Dufeys ersetzen werden. Fast noch wertvoller als die Textherstellung selbst ist die ungemein detaillierte Kommentararbeit Petris', in der die Anspielungen und Zitate aufgelöst werden. Ein weiterer Anhang (525-548) mit Zeugnissen und Urteilen von Zeitgenossen über Hospital verdeutlicht, wie die Bildung konkurrierender Mythen im kollektiven Gedächtnis schon zu Lebzeiten des Kanzlers einsetzte.
Auf der Grundlage einer derart minuziös erschlossenen Quellenbasis will Petris dann gegen die Fernausläufer dieser Mythenbildung vom 18. bis ins 20. Jahrhundert sein intellektuelles Porträt Hospitals setzen. Zunächst (3-70) bietet er in einem ersten Kapitel eine straffe Biografie als Kontext für die Textinterpretationen. Letztere sind in weitere zwei Kapitel geteilt: Im zweiten behandelt Petris das lange Widmungsgedicht Hospitals auf die Salbung des jungen Königs François II am 18.IX.1559, das eine Art Fürstenspiegel darstellt, sowie die Reflexionen über Poesie- und Rhetoriktheorie, die Hospital in einigen seiner Carmina äußert. Während Petris Hospital hier als Schriftsteller und Theoretiker, als Mann der Schreibfeder ("La Plume"), charakterisiert, folgt im dritten Kapitel eine sensible Form- und Inhaltsanalyse der politischen Reden als Umsetzung der zuvor reflektierten Wirksamkeit des Wortes in die Praxis des politischen Handelns, sozusagen von der Rednertribüne aus ("La Tribune"). Bei allen Textinterpretationen bietet Petris ausführliche Struktur- und Inhaltsübersichten zum Duktus des jeweiligen Gedichtes sowie in den Quellenannexen auch französische Übersetzungen des oft nicht gerade unkomplizierten Lateins Hospitals.
Der Fürstenspiegel für François II "De initiatione sermo" erweist sich als inspiriert von den berühmten Institution(e)s eines Erasmus, eines Budé, von de Seyssel und d'Espence und macht dem König die Herrschaftstugenden der pietas, der moderatio, der dignitas und der prudentia zur Pflicht. Petris weist schon in diesem Grundtext das politisch-ethische Gesamtprogramm Hospitals nach (94), das er "bürgerlichen Evangelismus" ("évangélisme civil") nennt.
In einigen Gedichten aus den erstmals postum 1585 veröffentlichten Carmina reflektiert Hospital über die Wirksamkeit der Worte und damit über sein eigenes politisches Handeln. Petris fasst die Bedeutung dieser Reflexionen zusammen: "L'homme renaissant est ainsi, essentiellement, un homo rhetoricus, un être imprégné de rhétorique qui comprend qu'il n'est homme que par le logos" (134). Die theoretischen Überlegungen Hospitals zur Macht der Worte, zum zentralen Renaissance-Thema des Verhältnisses von "lettres et armes", zu den rhetorischen genera (iudicativum und demonstrativum) sowie schließlich zum eigens begründeten "sermo evangelicus" als religiösem Redegenre sind so keine blutleeren Literatenspiele, sondern stellen zugleich Selbstbefragungen des humanistisch-religiösen Ichs in seiner nur sprachlich erfassbaren und sprachlich zu bewältigenden Welt dar (131- 214).
Im dritten Teil zeigt Petris dann einerseits in formaler Hinsicht die kunstvolle Komposition der berühmten politischen Reden des Kanzlers nach den verinnerlichten Regeln der humanistischen Eloquenz auf (stark adressatenbezogene Zitiertechnik, 220-229; Strukturierung der Argumentation nach dem Muster der aristotelischen Logik, 230-244; Appell an die Affekte gemäß der anthropologischen Annahmen der antiken Rhetorik, 245-254; Selbst- und Fremd-Repräsentation gemäß den Anforderungen des 'ethos', 255-267). Schließlich folgt im letzten Unterkapitel (275-322) die Darstellung der eigentlichen inhaltlichen Grundpositionen Hospitals. Petris ordnet diese Darstellung nach den gnomischen drei Kategorien des "un roi, une loi, une foi".
"Le roi": Das Bild des Königs bei Hospital ist das eines zwar - getreu dem "legibus solutus" aus Dig. 1, 3, 31 - über den Gesetzen stehenden, aber doch der religio und der iustitia unterworfenen Herrschers. Hospitals politisches Denken ist grundsätzlich "vertikal" und sieht den Herrscher als Mittler zwischen den Menschen und Gott, es ist nicht rein "horizontal" auf die Effizienz des politischen Handelns ausgerichtet. Insofern muss der Fürst sich um die moderatio seiner Macht und die ciceronische Balance zwischen honestas und utilitas bemühen. Die Autorität des Königs als des einzigen Gesetzgebers ist unantastbar, auch wenn hierin keine Theorie des Machtabsolutismus gründet.
"La loi": Hospitals wichtigstes innenpolitisches Ziel war neben dem Krisenmanagement zu Beginn der Religionskriege die Justizreform. Er strebte eine Vereinfachung der Strukturen der Justizverwaltung und auch der Gesetze selbst an, wobei sein methodisch-gedankliches Rüstzeug die historisch-kritische Jurisprudenz des mos gallicus waren. Seinem Kampf gegen die Käuflichkeit und Vererbbarkeit der Ämter war nur kurzfristiger Erfolg beschieden. Die Effizienz der Gesetze sollte durch ihre stete Adaptation an die Zeitverhältnisse gewährleistet werden.
"La foi": Am Ende steht Petris' Analyse zur Gretchenfrage bei Hospital, die in seinem Begriff vom "bürgerlichen Evangelismus" ihren Ausdruck findet (324). Der Glaube ist der zentrale Ausgangspunkt für Hospitals Handeln und Schreiben, die Evangelien und die paulinischen Texte sind die entscheidenden Bezugspunkte für das Wertegerüst, daher "Evangelismus". Ihn als Kryptoprotestanten zu bezeichnen, hat nach Petris aber keinen Rückhalt in den Quellen. Seine Religiosität sei zwar auf Gottes Gnade und den Glauben ausgerichtet, aber er habe sich nie auf Stellungnahmen zu dogmatischen Fragen und auf dezidierte Katholizismuskritik eingelassen. "Bürgerlich" sei dieser "Evangelismus", weil Hospital durchaus im humanistischen Sinne die vita activa des Engagements in dieser Welt befürworte, allerdings letztlich mit der Zielsetzung, durch dieses Tätigsein aus dem Diesseits einen Weg zu Gott zu machen. Humanist sei Hospital qua kultureller Prägung und Ausbildung, nicht aber im "anthropologischen Sinne" - gemeint ist wohl: eben nicht im Sinne einer areligiösen, einzig und allein auf den Menschen konzentrierten Weltanschauung.
Hier gelangt Petris zur Gesamtstoßrichtung seiner Arbeit: die Indienstnahme von Hospital als ein Nathan der Weise avant la lettre durch die Aufklärung und als Verfechter des säkularen Machtstaates durch das 19. Jahrhundert beruhe auf einer Mythenbildung, die schon im 16. Jahrhundert einsetzte, als insbesondere die Partei der "politiques" ab 1574/5 ihn als Vordenker vereinnahmte. Die so häufig zitierte Stelle aus der berühmten Rede vom Januar 1562, in der er das Toleranzedikt des gleichen Monats legitimiert ("il n'est pas ici question de constituenda Religione, sed de constituenda Republica", in Petris' Edition 439, Z. 186f.), trage keinesfalls als Beweis seines angeblichen Programms einer politischen Toleranz des Staates gegenüber der Religion. Wer dies so darstelle, missverstehe die Intention Hospitals: Das Mittel der temporären Toleranz als momentane Trennung von ziviler und religiöser Eintracht diene dem langfristigen Ziel einer besseren Wiedervereinigung von beidem im Dienste Gottes. Insofern streicht Petris mehrfach heraus, dass sich Hospitals Auffassungen keinesfalls mit denen Machiavellis deckten (82f., 118f.), und wendet sich gegen Thesen - etwa Olivier Christins -, dass schon bei Hospital eine Tendenz zur Autonomisierung des Politischen vorgelegen habe (276).[1]
Man wird ihm hier zustimmen müssen. Und doch gilt es zu betonen, dass bei einer Abkehr von der Forschungsperspektive der Suche nach den Intentionen und der Intellektualität des Menschen Hospital, seine Texte eben Passagen mit großem semantischem Potenzial boten für die Indienstnahme in anderen diskursiven Zusammenhängen, in denen die Trennung des Religiösen vom Politischen der systematische Ausgangspunkt zu werden begann. Andere Texte als jene Hospitals boten - wohl weil sie nicht ebenso sehr den rhetorisch-ethischen Regeln der sprachlichen Mäßigung gehorchten - hier eben erheblich weniger Ansatzpunkte zu "Missverständnissen".
Weniger als Kritik an Petris' Arbeit denn im Sinne einer Frage, die durch die Lektüre des Buches angeregt ist, sei noch vermerkt, dass das Verhältnis des Kanzlers - der 1523-1534 in Padova und Bologna studierte, 1547/48 wieder als Konzilsgesandter in Italien war - zum italienischen Humanismus vielleicht noch eingehender thematisiert werden könnte. Man kann sicher zunächst einfach die Differenz zwischen einem "nur kulturell" humanistischen, bürgerlichen Evangelismus und dem italienischen "rein bürgerlichen" Humanismus, also insbesondere der Sonderlinie Valla - Bracciolini - Machiavelli / Guicciardini, markieren. Man könnte aber auch andersherum von einer vorgegebenen, sorgfältig zu definierenden kulturellen Differenz zwischen italienischem Humanismus und den in Frankreich bis dahin gängigen Semantiken ausgehen, um dann zu fragen, wie die Semantik des "bürgerlichen Evangelismus" selbst das Ergebnis eines produktiven Transferprozesses von Italien nach Frankreich und damit eine neue Mischung aus schon vorher da Gewesenem und Fremdem war. Beruht Hospitals spezifische Rhetorikkonzeption einfach auf seiner autarken Aktualisierung der antiken Tradition oder verdankt sie sich zunächst schon einer italienischen Aktualisierung, etwa der Padovaner "Schule" (man denke nur an das Werk Agostino Nifos, dessen Enkel Fabio Hospital später in Frankreich protegierte)? Auch die Frage nach der Bedeutung Machiavellis beziehungsweise des Machiavellismus für Hospital - nicht als Diskurs der Amoralität und der Areligiosität, sondern als Diskurs der Methodisierung von politischen Entscheidungsfindungen - wäre neu zu stellen.
Jedenfalls aber ist Petris' Buch, schon aufgrund der hervorragenden Texteditionen und der Übersetzungen, aber auch aufgrund der einfühlsamen Werk- und Charakterinterpretation, von nun an als unverzichtbares Standardwerk zu Hospital für jede bessere Bibliothek in den einschlägigen historischen Fachdisziplinen anzusehen.
Anmerkung:
[1] Dieses Ergebnis, wenngleich präziser und klarer herausgearbeitet, deckt sich mit dem Crouzets, der in Hospital ebenfalls den Vertreter eines "évangélisme cicéronianiste" und "par essence et par vertu un antimachiavélien" sieht (Denis Crouzet: La sagesse et le malheur. Michel de L'Hospital, chancelier de France, Paris 1998, 19, 324 - für die Interpretation als einen ersten Antimachiavellisten vergleiche ebenda, 309-330; gegen Christin: 454f.).
Cornel Zwierlein