Ralf Vollmuth: Das anatomische Zeitalter. Die Anatomie der Renaissance von Leonardo da Vinci bis Andreas Vesal, München: Neuer Merkur 2004, 185 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-929360-70-7, EUR 69,00
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Eduard Seidler / Karl-Heinz Leven: Geschichte der Medizin und der Krankenpflege, 7., überarb. und erw. Auflage, Stuttgart: W. Kohlhammer 2003
Eva Brinkschulte / Eva Labouvie (Hgg.): Dorothea Christiana Erxleben. Weibliche Gelehrsamkeit und medizinische Profession seit dem 18. Jahrhundert, Halle/Saale: mdv Mitteldeutscher Verlag 2006
Carlos Watzka: Vom Hospital zum Krankenhaus. Zum Umgang mit psychisch und somatisch Kranken im frühneuzeitlichen Europa, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2005
Susanne Ude-Koeller / Thomas Fuchs / Ernst Böhme (Hgg.): Wachs Bild Körper. Moulagen in der Medizin. Begleitband zur Ausstellung im Städtischen Museum Göttingen vom 16.9. bis 16.12.2007, Göttingen: Universitätsverlag Göttingen 2007
Andreas Mettenleiter: Das Juliusspital in Würzburg - Medizingeschichte. Mit einem Vorwort von Oberpflegamtsdirektor Rainer Freiherr von Andrian-Werburg, Würzburg: Stiftung Juliusspital Würzburg 2001
Ole Martin Høystad: Kulturgeschichte des Herzens. Von der Antike bis zur Gegenwart. Aus dem Norwegischen von Frank Zuber, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2006
Das vorliegende Werk geht auf die Antrittsvorlesung zurück, mit der Ralf Vollmuth im Mai 2000 seine Habilitation für das Fach Geschichte der Medizin an der Würzburger Julius-Maximilians-Universität abschloss. Vollmuth erhebt darin nicht den Anspruch, neue Forschungsergebnisse zur Anatomiegeschichte vorzulegen. Er zielt vielmehr darauf ab, sein Thema auf der Basis des derzeitigen Wissenstandes "über Mediziner und Medizinhistoriker hinaus einem breiteren Publikum zugänglich zu machen" (10).
Zweifellos eignet sich die Anatomiegeschichte ganz besonders für eine populärwissenschaftliche Darstellung: Zum einen ist das anatomische Sujet derzeit sehr gefragt - nirgends wurde das deutlicher als in den Besuchermassen, die in die Körperwelten-Ausstellungen drängten. Zum andern ist die Anatomie ein Fachgebiet, das schon früh mit Bildern zu argumentieren begann. [1] So eröffnet sich die Möglichkeit, mit der sonst üblichen Textlastigkeit medizinhistorischer Publikationen zu Gunsten einer bildbetonten Darstellung zu brechen. Mit der zeitlichen Einblendung auf die Renaissance bieten sich dem Anatomiehistoriker zudem zwei zugkräftige Namen, die es ermöglichen, das zeittypische Wechselspiel von Wissenschaft und Kunst zu personifizieren: Andreas Vesal und Leonardo da Vinci.
Dieses besondere Potenzial seines Themas bewog Vollmuth dazu, damit vor eine breitere Öffentlichkeit zu treten. Das Ergebnis ist ein auffallend schmuckes Buch. Es besticht durch sein großzügiges Format und die sorgfältige Gestaltung des Schriftsatzes, vor allem aber durch die zahlreichen Reproduktionen anatomischer Zeichnungen und Holzschnitte, die auf dem zart gelb getönten, voluminösen Papier sehr gut zur Geltung kommen.
Nach einem Vorwort von Gundolf Keil und einer kurzen Einführung durch den Autor folgt die in fünf Abschnitte gegliederte historische Darstellung. Das erste Kapitel gibt einen Überblick über die Geschichte der Anatomie von der Antike bis ins ausgehende Mittelalter. Vollmuth macht den Leser zunächst mit den wichtigsten Etappen und Personen der antiken Anatomiegeschichte vertraut: mit der Tabuisierung der Humansektion im klassischen Griechenland, ihrer ersten Blüte im Alexandria des 3. vorchristlichen Jahrhunderts und der Kodifizierung des anatomischen Wissens durch Galen von Pergamon. Den ein Jahrtausend überspannenden Transfer des antiken Wissens über den syrisch-persischen und arabisch-islamischen Kulturraum bis in das lateinische Mittelalter erwähnt der Autor lediglich in einem Halbsatz, um seine Erzählung mit der salernitanischen Medizinschule des 11. Jahrhunderts und den wenig später entstehenden Universitäten wieder einsetzen zu lassen. Als herausragende Gestalt am Beginn der akademischen Anatomie wird Mondino de' Luzzi gewürdigt, der 1316 in Bologna die seit der Antike ruhende Tradition der Humansektion wieder aufnahm.
Schon in dieser ersten Leseprobe fällt ein Stilelement auf, dessen sich Vollmuth auch im weiteren Verlauf seiner Arbeit ausgiebig bedient: Er macht das Rednerpult frei für namhafte Forscherinnen und Forscher und räumt ihnen (respektive den aus ihren Publikationen entnommenen Zitaten) häufig breiten Raum ein. So überlässt Vollmuth es der Medizinhistorikerin Renate Wittern-Sterzel, die Anatomie des Aristoteles zu würdigen (13) oder übergibt in einem Exkurs zum siebenkammerigen Uterus das Wort an seinen akademischen Lehrer Gundolf Keil (28). Der Leser lernt dadurch en passant neben den herausragenden Anatomen auch die maßgeblichen Anatomiehistorikerinnen und -historiker kennen, die konsequenterweise auch im Personenregister verschlagwortet sind.
Das zweite Kapitel widmet sich der "Anatomie des Leonardo da Vinci". Vollmuth gibt eine biografische Würdigung des vielseitigen Renaissance-Künstlers und führt anhand von 17 ausgewählten, farbig reproduzierten Zeichnungen durch dessen faszinierendes anatomisches Werk. Abschließend diskutiert er die - letztlich unbeantwortbare - Frage nach der Rezeptionsgeschichte der unveröffentlicht gebliebenen Zeichnungen da Vincis, die sich heute in der Royal Collection in Windsor Castle befinden.
Anschließend wendet sich die Darstellung den "Vorvesalianern" zu, allen voran dem Chirurgen und Anatomen Jacobo Berengario da Carpi. Unter den zeitgenössischen anatomischen Schriftstellern des deutschen Sprachgebietes hebt Vollmuth den Straßburger Walther Hermann Ryff besonders hervor, dessen "Große Chirurgie" auch Gegenstand seiner Habilitationsschrift ist. [2]
Das folgende Kapitel widmet sich dem zweiten zentralen Protagonisten des Werks, Andreas Vesal. Entsprechend der aktuellen Forschungsmeinung sieht Vollmuth in ihm keinen "Revolutionär", sondern einen "Reformer" der Anatomie. Dass Vesals 1543 erschienene "Fabrica" als das herausragende Werk der Renaissance-Anatomie in die Geschichtsschreibung einging und ihr Autor als der "Vater" der wissenschaftlichen Anatomie gefeiert wurde, sei weniger auf den innovativen Inhalt der "Fabrica" zurückzuführen als vielmehr auf die hervorragende Qualität ihrer Illustrationen.
Die historische Darstellung endet mit einem kurzen, nicht illustrierten Ausblick über "Die Anatomie des 16. und 17. Jahrhunderts nach Andreas Vesal", in dem sich der Autor darauf beschränkt, bedeutende Anatomen, ihre Forschungsgegenstände und die nach ihnen benannten Strukturen zusammenzustellen.
Der 50 Seiten starke Anhang bietet als Besonderheit eine Zeittafel der wichtigsten Ereignisse der Anatomiegeschichte sowie Kurzbiografien der im Text erwähnten Anatomen. Die darauf folgenden "Anmerkungen" enthalten den (knapp gehaltenen) akademischen Fußnotenballast, auf den zu Gunsten einer besseren Lesbarkeit im Haupttext verzichtet wurde. Literatur- und Abbildungsverzeichnis sowie das bereits erwähnte Namensregister schließen das Werk ab.
An dieser Stelle scheint ein Wort zum Umgang mit den bildlichen Quellen angebracht, denen Vollmuth mit 70 ganzseitigen Abbildungen, denen 58 Seiten Text gegenüberstehen, sehr viel Platz einräumt. An mancher Stelle hätte man sich eine weiter gehende Kontextualisierung der Abbildungen gewünscht, die - entgegen der Meinung des Autors - nicht zwangsläufig "für sich sprechen" (10), sondern durchaus zum Sprechen gebracht werden wollen. So etwa bei der skelettierten Ganzkörperfigur aus Estiennes "De dissectione partium" von 1545, die von ihrem Nervensystem wie von schlängelndem Gewürm umgeben ist (79). Vollmuth stellt hier zwar fest, dass "die Kombination von Skelett und Nerven sehr ungewöhnlich" wirke, enthält sich aber weitergehender Überlegungen, etwa in Hinblick auf eine mögliche Beeinflussung durch die Bildtradition barocker Memento-mori-Darstellungen. Auf eine Reflexion der historischen Funktion bildlicher Quellen im Sinn einer Anbindung an den "pictorial turn" [3] der Kulturwissenschaften wartet der Leser vergebens.
Auch in anderer Hinsicht vermisst man eine Anbindung an aktuelle Forschungsfragen, und zwar in Bezug auf die Sozialgeschichte der Anatomie. Vollmuth erwähnt Karin Stukenbrocks einschlägige Studie zwar im Literaturanhang [4], er greift die von ihr aufgeworfenen Fragen aber nicht explizit auf. Der Leser erfährt lediglich aus zwei Nebensätzen, dass es sich bei den Anatomieleichen um Hingerichtete handeln konnte (14, 106). Die gesellschaftliche Reaktion auf die sich etablierende Praxis der anatomischen Leichenzergliederung wird von ihm an keiner Stelle thematisiert. Hier hätte man sich zumindest einen Exkurs zur "Anatomiegeschichte von unten" gewünscht.
"Das anatomische Zeitalter" ist auf den ersten Blick ein Werk, das man Freunden und Verwandten schenken möchte, um ihnen ein faszinierendes Kapitel der Medizingeschichte näher zu bringen. Bei genauerem Hinsehen ist es zwar bedauerlich, dass der Autor seinem Lesepublikum spannende Fragestellungen der aktuellen Forschung vorenthält, auch wünscht man sich stellenweise einen schlichteren und prägnanteren Sprachstil. Dennoch sollte man sich Vollmuths ansprechend aufgemachte Einführung in die Anatomiegeschichte für die nächsten Geschenkeinkäufe merken.
Anmerkungen:
[1] Renate Wittern-Sterzel: Die Präsentation des anatomischen Wissens im Buch des 16. Jahrhunderts, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 59 (2005), 34-49.
[2] Ralf Vollmuth: Traumatologie und Feldchirurgie an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit. Exemplarisch dargestellt anhand der "Großen Chirurgie" des Walther Hermann Ryff (= Sudhoffs Archiv; Beiheft 45), Stuttgart 2001.
[3] David Gugerli: Soziotechnische Evidenzen. Der "pictorial turn" als Chance für die Geschichtswissenschaft, in: Traverse 3 (1999), 131-159.
[4] Karin Stukenbrock: "Der zerstückte Cörper". Zur Sozialgeschichte der anatomischen Sektionen in der frühen Neuzeit (1650-1800) (= Medizin, Gesellschaft und Geschichte; Beiheft 16), Stuttgart 2001; s. hierzu die Rezension von Alexandra Chmielewski, in: sehepunkte 2 (2002), Nr. 5, URL: http://www.sehepunkte.de/2002/05/3515077340.html.
Marion Maria Ruisinger