Lukas Wick: Islam und Verfassungsstaat. Theologische Versöhnung mit der politischen Moderne? (= Kultur, Recht und Politik in Muslimischen Gesellschaften; Bd. 12), Würzburg: Ergon 2009, 196 S., ISBN 978-3-89913-674-6, EUR 29,00
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"Europa hat", wie es Wolfgang Reinhard zu Beginn seiner Geschichte der Staatsgewalt so schön formuliert, "den Staat erfunden". Der Staat, so Reinhard weiter, ist keine "anthropologische Notwendigkeit" (Ulrich Scheuner), er ist weder "uranfänglich" (Friedrich Christoph Dahlmann), noch ist er "an und für sich das sittliche Ganze, die Verwirklichung des Freiheit" und damit das Ziel der Weltgeschichte (Friedrich Wilhelm Hegel). Ist der Verfassungsstaat damit bloß ein Produkt der Säkularisierung, um den Machtanspruch der Religion, in diesem Fall des Christentums, einzudämmen, oder hat er am Ende doch etwas mit eben dieser Religion, dem Christentum, zu tun; stützt er sich womöglich darauf, und lässt er sich deshalb nicht einfach in andere kulturelle Kontexte transferieren? Dies sind die Fragen, die der hier zu besprechenden Arbeit von Lukas Wick zugrunde liegen. Ganz konkret möchte der Autor aber anhand von vier Beispielen islamisch-theologische Reaktionen auf die Probleme und Schwierigkeiten der Adaption des europäischen Konstitutionalismus' aufzeigen. Es geht ihm nicht darum, realpolitische und formaljuristische Verhältnisse zu beschreiben, sondern die Möglichkeiten und Grenzen des theologischen Diskurses auszuloten. Dazu holt er weit aus und skizziert in vier hinführenden Kapiteln den Hintergrund dieser Auseinandersetzung. Zunächst benennt er zwei Bedingungen, die dazu führten, dass sich die christlichen Institutionen zu einer positiven Anerkennung des Verfassungsstaates und verfassungsmäßig garantierter Freiheitsrechte durchringen konnten (Kap. 2): Erstens wird der Staat als unzuständig im Bereich der Religion befunden und die Religion als nichtzuständig für die Regelung der weltlichen Ordnung. Der moderne Staat organisiert das politische System derart, so Wick, dass konkurrierende universalistische Wahrheitsansprüche auf die gewaltsame Durchsetzung ihrer Wahrheit verzichten müssen und zum friedlichen Zusammenleben mit anderen Wahrheiten bereit sind. Zweitens muss Säkularisierung zwingend eine Kategorie politisch-rechtlicher Neubestimmung bleiben. Nur durch die Konzentration auf den politisch-rechtlichen Charakter der Säkularisierung war es im christlichen Kontext möglich, Misstrauen und Argwohn abzubauen.
Es schließt sich die Beschreibung des historischen Kontextes, der zur Etablierung des Konstitutionalismus in muslimischen Ländern geführt hat, an (Kap. 3). Der moderne Verfassungsstaat in Asien und Afrika ist bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts häufig genug nicht einmal von Teilen der Elite (im Gegensatz zu Lateinamerika und Osteuropa) rezipiert worden. Historisch gesehen hat man sich am ehesten noch im Osmanischen Reich um eine Politik der Neuordnung (Stichwort: Tanzimat) bemüht. Ein wegweisendes Datum ist hier der November 1839, als Sultan Abdülmecid I. (reg. 1839-1861) auf Anraten seines Großwesirs Mustafa Reschid Pascha (st. 1858) das "Erhabene Kaiserliche Handschreiben" (Hatt-i ṣerif) von Gülhane vor einer großen Zahl von Würdenträgern und dem diplomatischen Korps verlesen ließ. Alle Untertanen erhielten "die Sicherheit des Lebens, den Schutz der Ehre und des Vermögens" zugestanden. An diesen rudimentären Grundrechtskatalog knüpfte dann Murad V. (reg. 1876) an. Ein von ihm in Auftrag gegebener zweiter, umfassender Verfassungsentwurf wurde am 23. Dezember 1876 offiziell verkündet und in Kraft gesetzt. Das Dokument, das zwölf Titel und 119 Artikel umfasste, folgte im Wesentlichen der belgischen Verfassung. Insgesamt war der Weg asiatischer und orientalischer Länder zum Verfassungsstaat mühsam und beschwerlich. Impulse gingen am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor allem von den 1889 in Japan, 1906 in Iran und 1911/12 in China verabschiedeten Verfassungen aus. Im 20. Jahrhundert verbreitete sich dann der europäische Verfassungsstaat auf der Welt. Zumindest auf dem Papier ist er heutzutage die gängige politische Organisationsform der gesamten Menschheit.
Auf diese Ausführungen folgt der Versuch, die Grundlagen der islamischen Theologie zu bestimmen (Kap. 4). Zwei Unterschiede stellt Wick hier in den Vordergrund: 1. Der Umstand, dass antirationalistische Strömungen im Islam letzten Endes ab dem 12. Jahrhundert die Oberhand behielten, führte zu einer stark apologetischen Tendenz. Christliche Theologie hingegen habe einen epistemologischen Anspruch, den sie unabhängig von Kritik und Zweifeln entfalten will, um das Wissen über Gott und die Welt im Lichte der Offenbarung vernunftmäßig zu vertiefen, in das Mysterium Gottes einzudringen und die Gotteskenntnis zu mehren. 2. Einer christlichen Anthropozentrik stehe eine islamische Theozentrik gegenüber. Christliche Dogmen seien rational ausformulierte Glaubenswahrheiten auf der Grundlage der Offenbarung und der gelebten Tradition. Sie fänden sich bisweilen nicht einmal wörtlich in der Bibel.
In dem nun folgenden fünften Kapitel befasst sich Wick mit der politischen Moderne im islamisch-theologischen Diskurs. Die politische Moderne verbindet er in erster Linie mit zwei Phänomenen: zum einen mit der Säkularisierung und zum anderen mit dem Konstitutionalismus. Vor allem die Durchsetzung des Verfassungsstaates mit seinen freiheitlichen Vorstellungen habe eine Ausdifferenzierung des öffentlichen Raumes in eine religiöse und eine politische Sphäre möglich gemacht. Zentral sei dabei die Entwicklung der auf der Selbstbestimmung des Individuums beruhenden Glaubensfreiheit. In der islamischen Theologie hingegen zeigten gerade die Debatten um das Thema der Apostasie ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber individuellen Freiheiten im Allgemeinen und gegenüber der Gewissens- und Religionsfreiheit im Besonderen.
Dies alles bildet die Folie für die nun im abschließenden Teil von Lukas Wick ausgewerteten Schriften muslimischer Religionsgelehrter. Er konzentriert sich sinnvollerweise darauf, was etablierte Ulema zum Konstitutionalismus, seinen Mechanismen und Paradigmen sagen, da bei vielen Muslimen in Sinn- und Lebensfragen weder die einem westlichen Publikum genehmen Intellektuellen noch radikale Anführer Gehör finden, sondern die Ansichten der institutionell organisierten Rechtsgelehrten. Der von Wick analysierte Textkorpus umfasst Werke von dem Šayḫ al-Azhar Maḥmūd Šaltūt (1893-1963), dem algerischen Reformer Muḥammad al-Bašīr al-Ibrāhīmī (1889-1964), dem Azhar-Gelehrten Muḥammad Aḥmad Ḫalaf Allāh (1916-1998) und dem jetzigen Mufti der arabischen Republik Ägyptens Šayḫ Muḥammad Sayyid Ṭanṭāwī (geb. 1928). Das Ergebnis ist ernüchternd: Die eingehende und gründliche Lektüre zeigt deutlich, dass keiner von ihnen nach einer genuinen theologischen Auseinandersetzung mit der verfassungsstaatlichen Ordnung strebt. Es kommt zu keiner inhaltlichen Vertiefung, es bleibt bei der oberflächlichen Bezeugung der Übereinstimmung von Koran und Moderne. Eine theologische Auseinandersetzung mit dem Konstitutionalismus und seinen Rechtsgarantien ist nicht erkennbar. Wick, der sicher vor dem Einstieg in die Texte etwas völlig anders erwartet hat, ist zu Recht etwas ratlos. Sechs Gründe könnten seiner Meinung nach zu dem Schweigen der Gelehrten geführt haben: 1. Das Fehlen positiver politischer Erfahrungen mit dem Konstitutionalismus, 2. Der wachsende Einfluss wahhabitischen Gedankenguts, 3. Der Unwille, sich kritisch mit Muhammad als politischem Führer auseinanderzusetzen, 4. Die Betonung der muslimischen Ur-Natur des Menschen, 5. Die Fixierung auf einen sakralen Text ohne Berücksichtigung der gelebten Tradition, 6. Die rückwärts gewandte Utopie von der "Reinheit" eines fiktiven goldenen Zeitalters. "Muslimische Theologen bleiben", so das Fazit des Autors, "ob ihrer Fixierung auf die Urzeit meist in vormodernen Ansichten zum Verhältnis von Religion und Staat befangen, die ein Abrücken von teilweise archaischen Rechtsvorstellungen - zumindest gegenwärtig - eher unwahrscheinlich erscheinen lassen. Moderne geisteswissenschaftliche Ansätze werden überhaupt nicht einbezogen und erschweren eine kritische Bewertung der Urzeit noch zusätzlich." (177) Wick will nicht behaupten, Muslime seien nicht fähig, eine konstitutionelle Ordnung zu akzeptieren oder sich in eine solche zu integrieren. Auf jeden Fall könnten keine theologischen Anhaltspunkte dafür gefunden werden. Zwischen Theologie und gelebter Religion gäbe es jedoch, so seine Hoffnung, immer Spielraum für Pragmatismus und Interpretation. Eine politische Um- bzw. Durchsetzung verfassungsstaatlicher Prinzipien sei daher durchaus denkbar, zumal sich in der Bewältigung ihres Lebens nur wenige Menschen an theologischen Prinzipien orientierten.
Angesichts der wirklich erhellenden Fruchtlosigkeit des Versuches, in islamisch-theologischem Gedankengut eine Auseinandersetzung mit den essentiellen Problemen der Übernahme konstitutioneller Ideen und Konzepte zu finden, muss man meines Erachtens einen anderen Ansatzpunkt zur Erforschung dieser in der Praxis natürlich überaus spannenden Thematik suchen. Überall in der sogenannten muslimischen Welt sind im Laufe der letzten hundert Jahre der moderne Staat, in dem Verfassungen die selbstauferlegten normsetzenden Rahmenbedingungen vorgeben, oder zumindest seine spezifischen Hybridbildungen zur akzeptierten Selbstverständlichkeit geworden. Die Debatten um die Einführung von Verfassungen und die daraus resultierenden Rechtspraktiken etwa bilden daher einen guten Ausgangspunkt für die Analyse rechtskultureller Spannungsfelder, zumal im Zuge der Globalisierung auch die konfliktreichen, heterogenen, einander widerstreitenden und sich überlagernden pluralen Rechtsentstehungsprozesse jenseits der Verfassungen ins Blickfeld der Forschung geraten sind.
Stephan Conermann