Robert Gleave: Scripturalist Islam. The History and Doctrines of the Akhbārī Shīʿī School (= Islamic Philosophy, Theology and Science. Texts and Studies; Vol. 72), Leiden / Boston: Brill 2007, xxiii + 339 S., ISBN 978-90-04-15728-6, EUR 125,00
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Dass ideengeschichtliche Untersuchungen ihren Schwerpunkt zu allererst auf die historisch erfolgreichen Traditionen legen, ist eine wohl recht triviale Einsicht. Davon ist auch die schiitische Geistesgeschichte nicht ausgenommen: Hier lag und liegt das Hauptaugenmerk insbesondere auf einer eher rationalistischen Tradition, die als Uṣūliyya bekannt ist und die nicht zuletzt, zumindest nach vorherrschender Meinung, im safawidischen Iran des 16. und 17. Jahrhunderts zu einer Blüte der nunmehr theologisch geprägten Philosophie geführt hatte. Der Boom, den die Beschäftigung mit dieser philosophischen Tradition, verkörpert in der sogenannten 'Schule von Isfahan', in den vergangenen Jahrzehnten erfahren hat und weiterhin erfährt, ist sicherlich auch dem Umstand zu danken, dass die Uṣūliyya seit dem späten 18. Jahrhundert die schiitische Gelehrsamkeit sowohl im Irak als auch im Iran dominiert. Aus diesem Grund wohl scheint das vorliegende Buch, zumindest auf den ersten Blick, konträr zu dem gegenwärtigen Zeitgeist der Forschung zu stehen.
Diese Einschätzung ist natürlich stark überspitzt und so wohl auch nicht völlig korrekt. Zum einen kann der Autor auf wichtige Arbeiten zur frühen schiitischen Traditionsgelehrsamkeit zurückgreifen, für die hier die Studien von Andrew Newman (1992 [1] und 2000 [2]) und Paul Sander (1994 [3]) stellvertretend genannt sein sollen. Zum anderen leistet das vorliegende Buch einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zu einer modifizierteren Sichtweise der frühneuzeitlichen schiitischen Geistesgeschichte, die letzten Endes auch in die politische Geschichte hineinwirkt. Schließlich haben namhafte Autoren wie Juan Cole [4], Francis Robinson [5] und Jamal Malik [6] verschiedentlich, ungeachtet der vorliegenden Arbeiten zur Aḫbāriyya, diese eher pauschal als einen kruden Traditionalismus betrachtet, die dem für den westlichen Geschmack wohl sympathischeren Rationalismus der Uṣūliyya diametral entgegengesetzt war. Nicht zuletzt deshalb muss Gleaves vorliegende hochdifferenzierte Untersuchung als ein Meilenstein der Forschung zur frühneuzeitlichen schiitischen Ideengeschichte, aber auch darüber hinaus gelten. Gleave nämlich ist nicht nur in der Lage, mit überzeugender Systematik aufzuzeigen, wie komplex und anspruchsvoll des Denken der Aḫbārīs war, die das religiöse Denken im zwölferschiitischen Islam im späteren 17. und im 18. Jahrhundert beherrschten. Darüber hinaus liefert das Buch grundlegende Einsichten hinsichtlich intellektueller Traditionsbildungs- und Institutionalisierungsprozesse in der frühen Neuzeit, die für andere Untersuchungsgegenstände gut fruchtbar gemacht werden können: So wird der Frage, ob es sich bei der Aḫbāriyya um eine Denkschule gehandelt habe und was die strukturellen Kriterien für eine solche seien, ein wichtiger Stellenwert eingeräumt.
Die neun Kapitel behandeln die Aḫbāriyya in umfassender Weise, sowohl in personeller als auch inhaltlicher und methodischer Hinsicht. Dabei geht Gleave davon aus, dass sich, obwohl ähnliche traditionalistische Tendenzen in Theologie und Jurisprudenz schon in früheren Jahrhunderten aufgetreten sind (siehe Kapitel 1), nicht vor dem Wirken des iranischen Gelehrten Muḥammad Amīn al-Astārābādī (gestorben um 1624) von Aḫbāriyya als einer über ihre Doktrinen klar definierbaren Denkschule gesprochen werden kann. Folgerichtig wird dieser Stifterperson und ihrem Werk in den folgenden drei Kapiteln eine gründliche Untersuchung zuteil. Dabei tritt überraschend zutage, dass Astārābādī in seinem theologischen und philosophischen Denken durchaus dem im zwölferschiitischen Denken dominanten Rationalismus der frühislamischen Mu'tazila anhing und damit wohl keineswegs pauschal als Traditionarier abgestempelt werden kann (siehe Kapitel 4). Allerdings wird hieraus auch ersichtlich, dass die Abgrenzung von der Uṣūliyya wohl vor allem auf dem Gebiet der Rechtsmethodologie (uṣūl al-fiqh) erfolgt war und in einer speziellen Epistemologie und Hermeneutik wurzelte. Diese ging von der Prämisse aus, dass die menschliche Ratio für die Deduktion rechtlicher Normen aus den autoritativen Textkorpora unzureichend sei; deshalb sei den mündlichen und kanonisierten Überlieferungen des Propheten Muḥammad und vor allem der zwölf unfehlbaren Imame die Vorrangstellung einzuräumen (siehe Kapitel 3).
Im nachfolgenden Kapitel untersucht Gleave mit Mitteln der sozialen Netzwerkanalyse, gestützt auf v.a. arabisch- und persischsprachige biographische Lexika, die Entwicklung der Aḫbāriyya zu einer Denkschule und unternimmt schließlich einen überzeugenden Versuch, den kometenhaften Siegeszug dieser Schule zu erklären. Gerade der Umstand, dass die Keimzelle der Aḫbāriyya durch Astārābādīs direkte Schüler konstituiert wurde, die, wie das Beispiel des Muḥsin Fayḍ al-Kāšānī (gestorben 1680) hervorragend belegt, auch zur sogenannten philosophischen 'Schule von Isfahan' gehörten, zeigt, dass die Trennung in Uṣūlīs und Aḫbārīs weniger eindeutig war, als bisher weithin angenommen. Nichtsdestotrotz war die Aḫbāriyya wohl in der Hauptsache eine kritische Reaktion auf verschiedene exegetische Prinzipien, die von den Uṣūlīs hochgehalten wurden und die sich schließlich auch in der gesellschaftlichen Stellung des Juristen widerspiegelten. Die in zahlreichen Listen von doktrinären Unterschieden aufgezählten Differenzen hinsichtlich Hermeneutik, dem Status der autoritativen Texte und der Stellung der Rechtsgelehrten bilden laut Gleave deshalb die zentralen Programmpunkte, anhand derer er es für gerechtfertigt hält, von der Aḫbāriyya als einer Denkschule zu sprechen (siehe Kapitel 6). Folgerichtig werden in den letzten drei Kapiteln die Ansichten der Aḫbārīs hinsichtlich des Umgangs und Stellenwert des Qur'ān und der Sunna der vierzehn Unfehlbaren - der Prophet Muḥammad, seine Tochter Fā ṭima und die zwölf Imame -, sowie deren recht komplexe Hermeneutik beleuchtet, stets in Gegenüberstellung zu den Positionen der Uṣūlīs.
Selbstverständlich wäre eine umfassende Behandlung der Aḫbāriyya nicht vollständig ohne eine Erklärung ihres Niedergangs im frühen 19. Jahrhundert. Dieser Frage widmet sich Gleave in seinem Fazit, dessen Untersuchung erneut durch Umsicht und solide Textarbeit, anstatt durch übereilte Schlussfolgerungen besticht. Unter den vier Gründen, die Gleave als "a confluence of historical accidents" (303) bezeichnet, erscheint insbesondere derjenige bemerkenswert, dass die Aḫbārīs es nicht vermocht hätten, eine über ihre Gegnerschaft zu den Uṣūlīs hinausgehende interne Kohärenz zu entwickeln. Ihr Niedergang scheint deshalb nicht unerheblich den inner-Aḫbārī-Kontroversen um doktrinäre Marginalia zu einer Zeit geschuldet zu sein, da eine Geschlossenheit nötig gewesen wäre, um auch unter veränderten Rahmenbedingungen bestehen zu können.
Es bleibt abschließend lediglich, dem Autor zu danken, uns die Resultate von einer Dekade Forschung in einer ungemein dichten, aber aufgrund ihrer Systematik doch hervorragend lesbaren Arbeit zugänglich gemacht zu haben. Diese möge dem zu Verengung neigendem Blick hinsichtlich der zwölferschiitischen Geistes- und Kulturgeschichte als ein wichtiges Gegengewicht dienen und zu vergegenwärtigen helfen, dass auch hier die Welt nicht schwarz-weiß, sondern wesentlich facettenreicher ist.
Anmerkungen:
[1] "The Nature of the Akhbārī/Uṣūlī Dispute in Late Ṣafawid Iran. Part 1: 'Abdallāh al-Samāhijī's 'Munyat al-Mumārisīn'", in: BSOAS 55:1 (1992), 22-51; "Part 2: The Conflict Reassessed", BSOAS 55:2 (1992), 250-61.
[2] The Formative Period of Twelver Shī'ism: Ḥadīth as Discourse Between Qum and Baghdad, Richmond 2000.
[3] Zwischen Charisma und Ratio: Entwicklungen in der frühen imamitischen Theologie, Berlin 1994.
[4] Roots of North Indian Shī'ism: Religion and State in Awadh, 1722-1859, Berkeley 1988.
[5] "Perso-Islamic Culture in India from the Seventeenth to the Early-Twentieth Century", in: Canfield, R. L. (ed.): Turko-Persia: The Middle East, Central Asia and India in Historical Perspective, Cambridge u.a. : CUP, 1990, S. 104-31.
[6] Islamische Gelehrtenkultur in Nordindien: Entwicklungsgeschichte und Tendenzen am Beispiel von Lucknow, Leiden 1997.
Jan-Peter Hartung