Reiner Marcowitz / Werner Paravicini (Hgg.): Vergeben und Vergessen? - Pardonner et oublier? Vergangenheitsdiskurse nach Besatzung, Bürgerkrieg und Revolution - Les discours sur le passé après l'occupation, la guerre civile et la révolution (= Pariser Historische Studien; Bd. 94), München: Oldenbourg 2009, 186 S., ISBN 978-3-486-59135-4, EUR 24,80
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Besatzung, Krieg oder Revolution führten sowohl zu Formen gesellschaftlicher Amnesie als auch zu Manifestationen kollektiver Erinnerung. Staat und Gesellschaft wirkten auf Gestalt und Gestaltung von "Vergeben" und "Vergessen" ein, so dass ein Spannungsverhältnis zwischen verschiedenen Formen der Erinnerung und der Verdrängung entstand. Dies lässt sich nicht nur in Verträgen, Gesetzen und Anordnungen sondern auch anhand des öffentlichen Diskurses, der Bau- und Festkultur einer Gesellschaft ablesen. So lautet sinngemäß die These des vorliegenden Sammelbandes, der die Ergebnisse einer Konferenz des Deutschen Historischen Instituts Paris aus dem Jahre 2007 zusammenfasst. Die beiden Herausgeber Reiner Marcowitz und Werner Paravinci haben ausgewiesene Expertinnen und Experten für die Zeit seit der Mitte des 15. bis in das 20. Jahrhundert gewinnen können. In neun Kapiteln werden "Pardonner et oublier" für so unterschiedliche Ereignisse wie das Ende des 100jährigen Krieges und die Überwindung des spanischen Franco-Regimes diskutiert.
Nach einer kurzen Einführung, in der Reiner Marcowitz und Werner Paravincini neben der Aktualität des Themas besonders die verschiedenen Facetten der "Vergangenheitsbewältigungsbranche" des 21. Jahrhunderts hervorheben, folgen einige grundlegenden Überlegungen von Étienne François zur Bedeutung des Vergangenheitsdiskurses. François betont die Ambivalenz von Vergessen und Erinnern. Neben einer Vergangenheitsbesessenheit lasse sich die Notwendigkeit des gesellschaftlichen Vergessens attestieren. Neben der Logik des Siegers bestehe die Vorstellung von der Restaurierung des Rechts, neben der glorreichen die schmerzhafte Erinnerung. Die Dynamiken innerhalb dieses Prozesses wiesen auf konkurrierender Vorstellungen und Erzählungen hin, die sich in unterschiedlichen Formen manifestierten. Ans Ende seiner Überlegungen stellt François die Person Michael Kohlhaas und die implizite Frage, ob für den Erhalt der eigenen Erlösung nicht die Vergebung den Vorrang habe.
In ihrem Beitrag zum Ende des 100jährigen Krieg stellt Claude Gauvard (Paris) den Monarchen in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen. Anhand der verschiedenen Formen des königlichen Gnadenaktes zeigt sie die zahlreichen "lettres d'abolition" als Werkzeuge herrschaftlicher Politik Karls VII. auf. Gleichzeitig betont sie, dass für den Monarchen die Sichtbarmachung, also die Öffentlichkeit solcher Akte Bedeutung erlangte und den Monarchen als Garanten für die Regeln der Kriegshandlungen im Sinne einer rechtlichen Sicherheit verpflichtete. Durch den systematischen Vergleich von "lettre d'abolition" und "la rémission", der sowohl quantitative als auch qualitative Aspekte mit einschließt, werden die politischen Motivationen und Dynamiken hinter den Erlassen besonders deutlich.
Claire Gantet (Paris / Berlin) untersucht in ihrem Beitrag zum 30jährigen Krieg die konfessionelle und föderale Dimension der Friedensschlüsse. Zwar finde sich der Begriff der "l'amitié" als zentrales Argument in den entsprechenden Vertragstexten und Dokumenten wieder, jedoch habe die Dauer des Krieges und die gescheiterten Versuche, den militärischen Konflikt in den Jahren zuvor beizulegen, zu einer Inflation des Begriffes geführt. Neben offiziellen und privaten Formen der Erinnerung verweist Gantet vor allem auf die Ambiguität von Festen und Feierlichkeiten. Angelehnt an Harald Weinrich unterscheidet sie zwischen "Gedächtnis" und "Erinnerung" und zeigt auf, dass durch die Feier des Friedens vorrangig der Gräuel des Krieges gedacht wurde, Grenzen dadurch perpetuiert und nicht überwunden wurden. Am Ende stellt die Autorin die Frage, ob in einer multi-konfessionellen Gesellschaft Vergessen möglich sei, eine Frage, die Gantet nicht nur für das Alte Reich des 17. Jahrhunderts, sondern auch für die Verbrechen im Bosnien- und Kosovo-Konflikt der 1990er Jahre stellt.
Olivier Christin (Lyon) betont, dass sich die Dauer eines Konfliktes von großer Bedeutung für die nachfolgende Erinnerung erwies. In einem vergleichbaren Zugang wie Gantet betont Christin in seinem Beitrag zum Edikt von Nantes, wie sich Grenzen zwischen den Konfessionen durch Erinnerungskulturen verhärteten und Formen der Exklusion verstärkten. Gleichzeitig problematisiert Christin die Umsetzung von Amnestie und Amnesie, indem er die Durchdringung der Region durch herrschaftliche Autorität in der Person königlicher Offiziere und die Form königlicher Gnadenerlasse diskutiert.
Bernard Cottret (Versailles-Saint-Quentin) untersucht die Restauration der Stuarts seit 1660 in ihrer konfessionellen Dimension. Dabei steht für ihn weniger der Konflikt zwischen Protestanten und Katholiken im Vordergrund als der Umgang der britischen Obrigkeit mit den Non-Konformisten. Der Anspruch Karls II., religiöse Einheit zu schaffen, kollidierte in der Umsetzung mit der Zusage der politischen und religiösen Meinungsfreiheit. Die in der Deklaration von Breda formulierten Zusagen fanden nur wenig Widerhall in der politischen Praxis, was Cottret anhand der repressiven Maßnahmen und der Verfolgung von Aufständischen in der Zeit nach 1660 belegen kann. Gleichzeitig verdeutlichten die verschiedenen Strategien in Bezug auf Vergeben und Vergessen den Konflikt zwischen Krone und Parlament. Diese konfessionell-politischen Auseinandersetzungen, die Cottret mit den Entwicklungen in Frankreich am Ende der Religionskriege vergleicht, erhielten ihr Konfliktpotential über die Glorious Revolution 1688 hinaus und stellen ein zäsurübergreifendes Merkmal der britischen Gesellschaft dar.
Reiner Marcowitz (Metz) diskutiert die Restauration der Bourbonen im Anschluss an die Französische Revolution. Zentrales Argument seines Aufsatzes ist das Scheitern Ludwigs XVIII., "gesellschaftliche Aussöhnung und politischen Systemwechsel gleichzeitig überzeugend zu praktizieren" (117). Die Gegenwärtigkeit der Vergangenheit verdeutlicht Markowitz anhand verschiedener Aspekte wie der zahlreichen Kriegsinvaliden, der Rückkehr der Emigranten aber auch der öffentlichen Debatte über gesellschaftspolitische Inhalte. Marcowitz sieht in der Herrschaftsausübung Ludwigs XVIII. und seines Bruders Karls X. strukturelle Defizite, die Vergessen als gesellschaftliche Praxis scheitern ließen.
Volker Sellins (Heidelberg) Beitrag thematisiert die Praxis der politischen Restauration und Erinnerung in den verschiedenen Territorien Italiens. Anschaulich zeigt er, wie die Wiedereinsetzung vormaliger Herrscher nicht als Rückkehr zu alten Herrschaftsformen verstanden werden darf. Vielmehr wurden napoleonische Verwaltungsstrukturen übernommen und teilweise sogar nachträglich eingeführt, um die staatlichen Einnahmen zu erhöhen. Forderungen von konservativer Seite nach radikalen Rückschritten wie beispielsweise in Piemont scheiterten so aus fiskalischen Gründen. Sellin sieht die Restaurationen in Italien daher nicht durch konfliktreiche Auseinandersetzung mit der Erinnerung geprägt, sondern als Teil eines Zukunftsdiskurses, der scheitert, da liberalen und nationalen Forderungen nicht nachgekommen wurde.
Marc Oliver Baruch (Paris) betont in seinem Beitrag zur Situation in Frankreich nach 1945, wie weit der Anspruch innerhalb der französischen Gesellschaft, Kollaborateure umgehend zu bestrafen, an der praktischen Umsetzung scheitert. Dabei verwischten die Grenzen zwischen einer juristischen und politischen Aufarbeitung auch aufgrund des Anspruchs der französischen Regierung, keine Einflussnahme von alliierter Seite zuzulassen. Vor dem Hintergrund der Amnestien von 1951 und 1953 zeigt Baruch, wie sich zwei Entwicklungen gegenseitig verstärkten. Zum einen wurden die Helden der Resistance gefeiert, während gleichzeitig die Kollaborateure integriert wurden. Baruchs Beitrag betont, wie stark nationale Identität durch soziale Praxis bestimmt werden konnte und wie dadurch neue Formen der Exklusion geschaffen wurden.
Walter L. Berneckers (Erlangen-Nürnberg) Kapitel zum Umgang der spanischen Gesellschaft mit der Erinnerung an den Bürgerkrieg verdeutlicht, wie stark sich die Erinnerung an die militärische Auseinandersetzung von 1936-1939 mit der Diskussion der Diktatur vermischte. Bernecker sieht in der Geschichtsverdrossenheit der spanischen Gesellschaft nach 1975 ein Indiz dafür, dass der sozio-politische Friede mit einem "erzwungenen Gedächtnisverlust" erkauft wurde. Dabei stellt er die wichtige Frage, ob dieser Prozess nicht bereits während der Diktatur einsetzte. Obgleich er diese Entwicklung als "politische Klugheit" (172) umschreibt, zeigt er auf, dass spätestens seit den Recherchen des Journalisten Emilio Silva zu Beginn des 21. Jahrhunderts die bisher unterdrückte öffentliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit einsetzte.
Einige Überlegungen Alfred Grossers (Paris) zu den Begrifflichkeiten kollektiver Schuld und Kollektiven Erinnerns beschließen den Band. In seiner unnachahmlichen Kombination aus philosophischen Überlegungen und persönlichen Erinnerungen postuliert er die Rolle des Historikers als Moralpädagoge.
Jede Auswahl schließt auch aus. Dennoch ist die chronologische Lücke, die in dem Band zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und 1945 klafft, nur schwer nachvollziehbar. Besonders überrascht, dass in einer deutsch-französischen Publikation zur Erinnerung von Krieg und Umbruch ein Beitrag zum Ersten Weltkrieg fehlt. Dennoch bleibt nach der Lektüre des Bandes ein sehr positiver Eindruck. Obgleich die Autoren nicht vergleichend arbeiten, werden zahlreiche Aspekte deutlich, die die Stärken des historischen Vergleiches belegen. "Pardonner et oublier" werden als soziale Praxis und gesellschafts-, bzw. machtpolitische Auseinandersetzung deutlich. Wer sich mit Erinnerung als politischem Werkzeug und sozialer Praxis auseinandersetzt, dem sei dieser Band ausdrücklich empfohlen.
Torsten Riotte