Britta Spies: Das Tagebuch der Caroline von Lindenfels, geb. von Flotow (1774-1850). Leben und Erleben einer oberfränkischen Adeligen am Ende der ständischen Gesellschaft (= Internationale Hochschulschriften; Bd. 531), Münster: Waxmann 2009, 435 S., ISBN 978-3-8309-2171-4, EUR 29,90
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Adlige Alltagsgeschichte ist, trotz derzeit boomender Adelsforschung, immer noch ein kaum bestelltes Feld. Britta Spies will dem Abhilfe verschaffen, indem sie sich um "eine Annäherung an die konkrete Lebenspraxis des Adels" (12) bemüht. In erster Linie geht es ihr darum, die isolierte Betrachtung des Adels als Herrschaftsstand aufzubrechen zugunsten einer verstärkten Wahrnehmung seiner Verflochtenheit mit und seiner Beziehungen zu den anderen Ständen. In ihrer Dissertation hat sie dazu das Tagebuch der Freifrau Caroline von Lindenfels ausgewertet, welches mit 5000 Seiten, geschrieben zwischen 1791 und 1849, einen bemerkenswert langen Zeitraum innerhalb der von vielfältigen Umbruchsphänomenen geprägten "Sattelzeit" (1750-1850) umspannt.
Spies siedelt ihre Studie zwischen historisch arbeitender Volkskunde und Historischer Anthropologie an. Um die Lebenswelt der Caroline von Lindenfels darzustellen, wählt sie einen mikrohistorischen Zugriff, verbunden mit der Herangehensweise der historischen Selbstzeugnisforschung, deren gegenwärtigen Stand und interne Debatten sie nach der Vorstellung ihrer Quelle ausführlich referiert. Für den Adelshistoriker aufschlussreich ist die im Anschluss folgende Gegenüberstellung der relativ parallel verlaufenden Paradigmenwechsel in der volkskundlichen und historischen Adelsforschung. So ist auch in der Volkskunde der Adel als Forschungsgebiet bislang meist vernachlässigt und ausgeklammert worden. Daher leistet Spies mit ihrer Dissertation durchaus Pionierarbeit.
Im ersten Untersuchungsteil der Arbeit setzt sich Spies intensiv mit dem Tagebuch als Quellenart auseinander, bevor sie die Schreibmotivation der Caroline von Lindenfels herausarbeitet und fünf verschiedene Schreibsituationen als Analyseinstrument etabliert. Dabei arbeitet sie zunächst die Funktion des Tagebuchs im konkreten Fall der Caroline von Lindenfels heraus und zeigt deutlich auf, wo Grenzen des analytischen Zuganges zur Gefühls- und Lebenswelt der Verfasserin des Tagebuchs liegen, das in diesem Fall eher als halböffentliche Chronik denn als journal intime diente.
Die Schreibsituationen setzten sich aus einem jeweils geänderten persönlichen Status und einem dazu korrespondierenden Ortswechsel zusammen und bestimmten die Perspektive, aus der heraus die einzelnen Teile des Tagebuchs verfasst sind. Spies stellt so deutlich wie banal fest, dass die Jugendzeit in Bayreuth eine andere Schreibsituation konstituierte als jener Lebensabschnitt als Hausfrau und Mutter auf dem eigenen Gut.
Die weitere Analyse gliedert sich in zwei große Themenbereiche, die Spies als besonders geeignet erscheinen, um die Lebenswelt des Adels zwischen Umbruch und Beharrung auf ständischen Privilegien darzustellen. Diese formen die beiden Großkapitel "Kultur der Muße" und "Gefährdungen". Ersteres stellt ostentativen Konsum und Müßiggang als konstitutive Momente adligen Lebens sowie deren Anfechtung während der Sattelzeit in den Mittelpunkt. Es unterteilt sich in einzelne Abschnitte, in denen zu den Themen "Feiern und Feste", "Tanz", "Spiel und Spielen", "Umgang mit Bildern" und "Gärten" jeweils einschlägige Passagen aus dem Tagebuch zusammengetragen werden. Im zweiten Großkapitel wird unter den Punkten "Krankheit", "Schwangerschaft und Geburt", "Alleinsein", "Verbrechen, Unfall, Katastrophe" und "Krieg" genauso verfahren. Die Schreibsituationen werden in diesem Teil jedoch nur selten systematisch als Analysekategorien angewendet, weshalb die beiden Teile etwas isoliert nebeneinander stehen.
Die Dissertation entstand, zumindest phasenweise, im Rahmen des Forschungsprojekts "Kontinuitäten oder revolutionärer Bruch? Eliten im Übergang vom Ancien Régime zur Moderne (1750-1850)". Gleichwohl hat sich Spies dafür entschieden, die einzelnen Themenschwerpunkte nicht so sehr an adels- bzw. elitenspezifischen Fragestellungen zur Sattelzeit anzuschließen. So weist sie zwar darauf hin, dass Caroline von Lindenfels sich in ihrem Tagebuch durchaus zum ihr widerfahrenen Standesverlust äußert; da jedoch Textpassagen zu anderen lebensweltlichen "Gefährdungen" wie etwa "Krankheiten" überwiegen, schenkt Spies stattdessen solchen, von den Umbrüchen der Epoche kaum berührten Phänomenen weitaus mehr Aufmerksamkeit.
Insgesamt hat Spies ihre Arbeit überaus detailliert angelegt und zieht z.T. sehr lange Quellenzitate zur Illustrierung einfachster Sachverhalte heran. Dabei driftet sie oft vom "close reading" in die Kleinteiligkeit ab und erliegt der klassischen Versuchung der Mikrogeschichte, kleine Geschichten statt Geschichte im Kleinen zu erzählen, zumal sie ihre Ergebnisse kaum in den weiteren historischen Kontext rückbindet. Inwieweit Caroline von Lindenfels Regel oder Ausnahme war, geht aus der Arbeit nicht hervor. Eine durchgehende Anknüpfung an die historische Makroebene hätte ihren Ergebnissen ein höheres Maß an Signifikanz verliehen. So können auch innerhalb der einzelnen Themenbereiche nur vereinzelt Entwicklungslinien nachverfolgt werden. Das geringe Maß an historischer Kontextualisierung vieler Befunde stößt gerade bei einigen für die Sattelzeit besonders bedeutenden Aspekten auf. Dass Caroline von Lindenfels sich mal für, mal gegen eine Ständegesellschaft aussprach, wäre einer intensiven Analyse wert gewesen, genauso wie ihre nach und nach wachsende Abneigung gegenüber Frankreich.
Dies soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Spies' Arbeit auch für die historische Adelsforschung durchaus wertvoll ist: So weist sie immer wieder vehement auf die Konstruiertheit der Dichotomie von Adels- und Volkskultur hin und zeigt die vielfachen Verflechtungen und Begegnungen im täglichen Miteinander auf. Caroline von Lindenfels bekommt etwa im Wochenbett Besuch von Frauen aus dem Dorf und ihre Töchter fungieren bei der Hochzeit der Kinderfrau als Brautjungfern. Auch wird deutlich, dass Erziehung und Alltag zumindest dieser Adligen sehr viel handfester und arbeitsreicher waren, als es das oft schematisch gezeichnete Bild von adliger Mädchenbildung vermuten lässt. Dass eine Abendgesellschaft nicht nur Vergnügen, sondern auch für die beteiligten Adligen Arbeit, Mühe und lange Aufenthalte in der Küche bedeuten konnte, mutet zunächst überraschend an und bereichert das Bild vom adligen Alltag und dem, was 'standesgemäßes' Verhalten umfassen kann, ungemein. Spies vergegenwärtigt die tatsächliche Lebenswirklichkeit, aus deren Kenntnis heraus sich Aussagen über Reaktionen und Handlungen des historischen Protagonisten eigentlich überhaupt erst treffen lassen. Es gelingt ihr auf diese Weise, ein oft allzu schematisch gezeichnetes Bild adligen Lebens zu präzisieren. Auch bei der Frage nach den emotionalen Bindungen in adligen Ehen kann Spies am Beispiel der Caroline von Lindenfels zeigen, dass Emotionen bei der Eheanbahnung nicht so vollständig der Standesräson untergeordnet wurden wie häufig unterstellt. Spies wendet sich in diesem Zusammenhang oft deutlich und zu Recht gegen Heinz Reif, verlegt diese wichtige Auseinandersetzung aber leider in die Fußnoten.
Fraglos hat Britta Spies mit dem Tagebuch der Caroline von Lindenfels ein äußerst bemerkenswertes Selbstzeugnis untersucht. Aufgrund der mangelnden Kontextualisierung gelingt es ihr jedoch leider nur vereinzelt, die vielen Fäden ihrer Arbeit zu einem Bild zu verknüpfen, dessen Interesse über das Alltagsgeschichtlich-Deskriptive hinausgeht. Das Potenzial dieser Quelle, die verschiedensten Aspekte eines adligen Lebens unter den sich stark wandelnden Verhältnissen der Sattelzeit immer wieder neu zu beleuchten, bleibt zu einem großen Teil ungenutzt. Trotzdem gelingt es Britta Spies, faszinierende und vielfältige Einblicke in die Lebenswelt der Caroline von Lindenfels zu ermöglichen und einige bislang zu schematisch dargestellte Aspekte adligen Lebens sehr viel plastischer nachzuzeichnen.
Ulrike Schmitz