Jonathan Steinberg: Bismarck. A Life, Oxford: Oxford University Press 2011, XII + 577 S., 27 s/w-Abb., 3 Kt., ISBN 978-0-19-959901-1, GBP 25,00
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Es ist immer wieder erstaunlich zu sehen, wie groß die Faszination ist, die von der Person "Bismarck" ausgeht. Obwohl man angesichts der kaum noch überschaubaren Literatur zu Otto von Bismarck und seiner Zeit eigentlich den Eindruck haben müsste, dass inzwischen alles gesagt und geschrieben worden sei, reizt es doch viele Neuzeithistoriker im In- und Ausland, sich irgendwann einmal doch mit dieser Epoche wie auch vor allem mit der Figur des Reichsgründers zu befassen. Aus ereignis-, struktur-, politik-, gesellschaftlich- oder kulturgeschichtlicher Perspektive gibt es bei Licht betrachtet sicherlich manche Lücke, die es zu füllen oder einige neue Fragen, die es zu beantworten gilt, um zu wichtigen Erkenntnissen zu kommen. Gilt dies aber auch für die Person, über die inzwischen doch eine Fülle neuerer, aus den Akten geschriebener Biografien vorliegt?
Jonathan Steinberg, der einst in Cambridge lehrte und der zweifellos zu den besten englischen Kennern der deutschen Geschichte gehört, ist davon überzeugt. Gleichwohl, auch ihm ist bewusst, dass er einen neuen Zugriff wählen muss, um seiner Deutung die notwendige und angemessene Aufmerksamkeit von Historikern und interessierten Laien zu verschaffen. So legt er denn keine "klassische" Biografie vor, die das Leben des "Helden" unter Einbeziehung der Zeit nacherzählt. In heute eher ungewohnter Form hat Steinberg sich vielmehr für die Version eines "life in letters" entschieden. Das ist mutig, unkonventionell, aber dennoch - dies sei vorweggenommen - interessant. Mit viel Akribie hat Steinberg alle bekannten gedruckten Quellen - seien es amtliche Akten und Protokolle, Tagebücher oder Memoiren - gesichtet und zu einer Darstellung verwoben. Hinzu kommt eine Fülle von großenteils unbekannten Zeitungsberichten, die zu erschließen und für die weitere Forschung nutzbar zu machen ihm erst das Internet ermöglichte.
Was ist dabei herausgekommen? Herausgekommen ist eine in Teilen stark psychologisch argumentierende, alles in allem aber sehr lesbare und nachdenkenswerte Biografie eines Mannes, der, daraus macht Steinberg keinen Hehl, wohl der bedeutendste Staatsmann der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war.
Wie sehr es Steinberg darum geht, Bismarcks Persönlichkeit mit ihren vielen teilweise unauflösbaren Widersprüchen zu erfassen, macht bereits die Einleitung deutlich. Diese ist überschrieben mit dem Titel "Bismarck's sovereign self", was man ungefähr mit "souveräner Persönlichkeit" übersetzen könnte. Steinberg wählt diesen Begriff bewusst, um deutlich zu machen, dass Bismarck zwar über keine tatsächliche Macht verfügt habe - "sovereign power" (3), wohl aber enorme Durchsetzungs- und Gestaltungskraft aufgrund seines "sovereign self". Das klingt kompliziert, ist aber einleuchtend, da Entscheidungen des jeweiligen Souveräns - Wilhelm I., Friedrich III. und schließlich Wilhelm II. - seine Macht nicht nur begrenzen, sondern ihn sogar dieser auch berauben konnten. Ausgehend von dieser Prämisse beschreibt Steinberg im weitren Verlauf seiner Darstellung, wie es Bismarck gelang, seine persönliche Macht auszuüben. Im Gegensatz zu allen bisherigen Bismarck-Biografen lässt er dabei nicht Bismarck selbst Sprechen, sondern jene, "friends and foes", "Freunde und Feinde", die davon in irgendeiner Form betroffen waren. In insgesamt zehn Kapiteln beschreibt Steinberg anschließend Bismarcks Leben aus der Perspektive der Zeitgenossen - angefangen in einem sehr lesenswerten Kapitel mit der Überschrift "Born Prussian and what that Meant" über "The 'Mad Junker'" oder "The Unification of Germany" bis hin zu einem umfangreichen Abschnitt, der sich mit dem Dreikaiserjahr und "Bismarck's Fall from Power" auseinandersetzt.
Sicher, der "rote Faden" der Rahmenerzählung ist bekannt. Aber dennoch gelingt es Steinberg durch die von ihm herangezogenen, oft sehr sprechenden Zeugnisse von Zeitgenossen aus dem In- und Ausland neues Licht auf altbekannte Probleme zu werfen. Am Ende kommt aber auch Steinberg nicht umhin, wie Ludwig Windhorst - einer seiner schärfsten Kritiker - oder die Baronin Spitzemberg - eine kluge, Bismarck wohlgesonnene Chronistin der Zeit - die Widersprüchlichkeit von Bismarcks Persönlichkeit als gegeben und letztlich unauflösbar zu konstatieren. Ob man zur Erklärung dieser Widersprüche unter Rückgriff auf Sigmund Freud Bismarcks Hass auf seine Mutter (469) in den Mittelpunkt der Darstellung stellen muss, sei dahingestellt. Bismarcks Weigerung, eigene Fehler einzugestehen, sein offenes Bekenntnis, Gegner regelrecht zu hassen, seine Hypochondrie und sein regelrecht physisches Leiden an seiner Umwelt in schwierigen Situationen oder auch - so Steinberg - seine ungehemmte regelrechte "Fresslust" sind einige Beispiele, die diese "Diagnose" bestätigen. Dagegen stehen jedoch Bismarcks Tugenden: Seine Höflichkeit, ja regelrechte Wärme gegenüber Besuchern, seine Liebe zu seiner Frau oder auch seine enge Beziehung zu seiner Schwester Malwine.
Am Ende gesteht auch Steinberg zu, dass Bismarck viel erreicht hat. Dies gilt insbesondere für die internationale Politik, wo er vielleicht sogar aufgrund seines "Charakters" das "game", das große Spiel meisterhaft beherrschte: "The chessboard could be overseen and it suited Bismarck's peculiar genius for politics to maintain in his head multiple possible moves by adversaries." (472). Dieses "Genie", dass die außenpolitische Konstellation über annähernd zwei Jahrzehnte erfolgreich beeinflusste, erwies sich jedoch zunehmend als unfähig, die Innenpolitik zu gestalten. Ähnlich wie Lothar Gall betrachtet auch Steinberg Bismarck als einen "Zauberlehrling", der die "Geister" nicht loszuwerden vermochte, die er gerufen hatte: "The Bismarckian assumption that a master player can 'game' the system worked only to a point at which irratonal emotions, violence, confusion, incompetence, began to mix themselves up with his plans." (473). Aus Bismarcks Sicht blieb daher nur der Staatsstreich, den zu führen im aber der junge Kaiser 1890 verweigerte. Bismarcks "sovereign self", und hier schließt sich der Kreis ganz im Sinne von Shakespeares "King Lear", scheiterte nun an der "sovereign power", die zu stärken er einst angetreten war. Bismarcks Entlassung bedeutete aber nicht, dass sein "Erbe" (Legacy) nicht fortwirkte. Seinem Ansatz folgend, bestätigt Steinberg noch einmal Max Webers Verdikt aus dem Jahre 1918, Bismarck habe eine Nation ohne jedwede politische Erziehung hinterlassen, stets darauf bedacht, dass ein Führer die notwendigen Entscheidungen schon für sie treffen würde. Dieser "Führer" sei dann Hindenburg gewesen, der dann allerdings die Macht an Adolf Hitler weitergegeben habe.
Über letztere Deutung lässt sich trefflich streiten; gleichwohl, den Wert von Steinbergs Darstellung schmälert diese Einschränkung nicht. Sie ist in alter englischer Tradition gut geschrieben, klar in der Darstellung und selbst für den Fachmann immer wieder erkenntnisreich in der Analyse. Dafür sei dem Autor ausdrücklich gedankt.
Michael Epkenhans