Rezension über:

Mathias Beer: Flucht und Vertreibung der Deutschen. Voraussetzungen, Verlauf, Folgen (= Beck'sche Reihe; 1933), München: C.H.Beck 2011, 207 S., 17 s/w Abb.,7 Tabellen, 6 Karten, ISBN 978-3-406-61406-4, EUR 12,95
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Rezension von:
Susanne Greiter
Eitensheim
Empfohlene Zitierweise:
Susanne Greiter: Rezension von: Mathias Beer: Flucht und Vertreibung der Deutschen. Voraussetzungen, Verlauf, Folgen, München: C.H.Beck 2011, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 1 [15.01.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/01/20571.html


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Mathias Beer: Flucht und Vertreibung der Deutschen

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Zugegeben, man nimmt das gerade einmal 200 Seiten umfassende Buch von Mathias Beer nicht ohne skeptische Neugier zur Hand, steht doch die Frage im Raum: Wie kann es einem profunden Kenner der Materie gelingen, auf so engem Raum einen Überblick über die "Flucht und Vertreibung der Deutschen" einschließlich der Vor- und Nachgeschichte unterzubringen, wo doch andere Autoren dafür wesentlich mehr Platz brauchen? [1]

Bereits in seiner "Fuga furiosa" überschriebenen Einleitung legt Beer das Fundament für die gesamte Darstellung. Dabei arbeitet der Autor integrativ und epochenübergreifend. Der narrative Einstieg erinnert an Walter Kempowskis kollektives Tagebuch Echolot und verweist darauf, dass der meist mit dem Topos Flucht und Vertreibung assoziierte Treck von Deutschen gen Westen am Ende des Zweiten Weltkriegs nur ein Teil eines exorbitanten Bevölkerungstransfers war. Zu denen, die ihre Heimat verloren, zählen unter anderem auch die "Volksdeutschen" vom Schwarzen Meer bis Südtirol, die von den Nationalsozialisten "heim ins Reich" geholt wurden, oder das Heer der sogenannten Ostarbeiter, die nach Deutschland verschleppt worden waren. Aber Beer geht in der Tradition Karl Schlögels und Götz Alys noch einen Schritt weiter und integriert auch die europäischen Juden in das vielstimmige Konzert der Zwangsmigrationen. Auf die Juden sollte jedoch keine neue Heimat warten; für Millionen von ihnen endete die "Fuga furiosa" in Paul Celans "Todesfuge".

Beer betont, dass sich die sogenannte Stunde Null am 8./9. Mai 1945 ausschließlich auf das Ende der Kampfhandlungen beziehen kann, und er zeigt, dass die Bevölkerungsbewegungen in Europa nach der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches einen neuen Höhepunkt erreichten. Damit relativiert Beer aber zu Recht eine Epochengrenze, die für Forschungen zum Thema Migration und Zwangsmigration im Zweiten Weltkrieg eher hinderlich ist.

In ihrer Bedeutung schwer zu überschätzen ist die längst überfällige Analyse des aufgrund seines hohen Wiedererkennungswerts häufig gebrauchten Begriffspaars "Flucht und Vertreibung". Beer wendet sich dabei bewusst von moralisch-ideologischen Deutungsmustern ab und profiliert die Begriffe als Analyseinstrumente zur Kontextualisierung der europäischen Bevölkerungsverschiebungen mit globaler Dimension. Trotz der Fülle an Fakten bleibt der Überblick über Evakuierung, Flucht, Vertreibung und Deportation im ersten Teil des Buches gut verständlich. Dieser Umstand verdankt sich einem Kunstgriff des Autors. Sein eigener Stil ist nüchtern, ihr Kolorit gewinnt die kompakte Darstellung durch zahlreiche Zitate aus der in den 1950er Jahren erarbeiteten fünfbändigen Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa. Damit erfährt dieses aufgrund der ursprünglich politischen Zielsetzung nicht unumstrittene Projekt eine deutliche, explizit beabsichtigte Aufwertung.

Auch der kurz gehaltene Abschnitt über die Integration der "Neubürger" aus dem Osten in Westdeutschland ist dem Ziel einer umfassenden Kontextualisierung verpflichtet. Eine der Hauptthesen Beers - die Migration habe die konfessionelle Landkarte Deutschlands so stark verändert, wie es seit dem 30-jährigem Krieg nicht der Fall gewesen sei - wirft nochmals ein Schlaglicht auf den Bedeutungsgehalt des Themas Flucht und Vertreibung. Luzide gelingt dem Autor die Aufspaltung zwischen der Erfolgsgeschichte der Integration und ihrem Mythos. Es war nicht vorhersehbar, dass die Eingliederung Erfolg haben würde - eine Eingliederung, die allerdings nicht einheitlich und nicht für alle gleichermaßen positiv verlief. Beer macht deutlich, dass nicht zuletzt viele Programme im Zeichen des Kalten Krieges dem Unternehmen Integration zum Durchbruch verhalfen. Überfremdungsängste auf Seiten der einheimischen Bevölkerung schwanden in der Folge ebenso wie die Rückkehrwünsche der Immigranten. Daher ist der bis heute in den Statuten der Sudetendeutschen Landsmannschaft verankerte Anspruch auf die verlorene Heimat längst ein Anachronismus.

Der letzte - im Kern auf einem Aufsatz Beers von 2003 [2] basierende - Teil schlägt den Bogen von der Historiographie zur Erinnerungskultur. Anhand der politischen Debatten in der Bundesrepublik versucht er zu zeigen, dass Flucht und Vertreibung zu keinem Zeitpunkt und unter keiner Regierung je einem Tabu unterlagen. Beer beschreibt diesen Diskurs ausgehend vom Konsens der 1950er Jahre über die Konflikte im Zuge der Ostpolitik der sozialliberalen Koalition bis hin zur Auflösung parteipolitischer Frontstellungen mit dem 2008 von CDU, CSU und SPD gemeinsam eingebrachten Gesetz zur Errichtung der "Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung". Letztlich ist Beers Fazit zuzustimmen: Die Themen Flucht und Vertreibung wurden zu keiner Zeit verdrängt, gleichwohl kam es in den 1960er Jahren zu einem für das kollektive Erinnern bedeutungsvollen Paradigmenwechsel. Oder anders gesagt: Der Diskurs über die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft änderte sich grundlegend. Nicht mehr die deutschen Opfer von Luftangriffen und Vertreibung, sondern die Opfer der deutschen Kriegs- und Vernichtungsmaschinerie in Europa rückten ins Zentrum der bundesdeutschen Gedenkkultur. Dieser Paradigmenwechsel blieb auch für die Forschung nicht folgenlos, die das Thema seit den 1960er Jahren zunehmend gemieden hat. Erst die gravierenden Veränderungen auf der weltpolitischen Bühne, die deutliche Abschwächung der politischen Polarisierung und ein kontextualisierender Blick auf die Geschichte haben die Erinnerungslandschaft neu gestaltet. Damit kehrte der Diskurs um Flucht und Vertreibung in die "Mitte der Erinnerung" zurück. [3]

Auf der forschungspraktischen Ebene liegt die Leistung Beers in der gelungenen Synthese der komplexen Migrationsverläufe in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Auf der Metaebene wird deutlich, welches Potential der Kategorie Generation innewohnt. Erst jüngeren Historikerinnen und Historikern gelingt es, die vom Historikerstreit der 1980er Jahre geprägten Aufrechnungsängste auszublenden und einen neuen Rahmen zu konstruieren. Verbrechen von Deutschen werden ebenso wie Verbrechen an Deutschen in einem Buch genannt, ohne dass der Autor je in den Verdacht der Verharmlosung gerät. Zwei Jahrzehnte nach dem Ende der bipolaren Welt und der Öffnung West-Europas gen Osten ist es leichter geworden, "heiße Eisen" anzufassen. Dies vereinfacht den Weg zu einer neuen Erinnerungskultur ebenso wie eine integrative Verortung des Themas Flucht und Vertreibung.


Anmerkungen:

[1] Das Buch von Eva Hahn / Hans Henning Hahn: Die Vertreibung im deutschen Erinnern. Legenden, Mythos, Geschichte, Paderborn 2010, etwa umfasst 800 Seiten.

[2] Mathias Beer: "Ein der wissenschaftlichen Forschung sich aufdrängender historischer Zusammenhang". Von den deutschen Schwierigkeiten, "Flucht und Vertreibung" zu kontextualisieren, in: ZfG 51 (2003) H.1, 59-64.

[3] K. Erik Franzen: In der neuen Mitte der Erinnerung. Anmerkungen zur Funktion eines Opferdiskurses, in: ZfG 51 (2003) H. 1, 49-53.

Susanne Greiter