Caroline Arni / Regina Schulte / Xenia von Tippelskirch (Hgg.): Historische Anthropologie. Jahrgang 20 (2012), Heft 1. Thema: Botengänge (= Historische Anthropologie), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2012, IV + 153 S., ISBN 978-3-412-20900-1, EUR 24,90
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Der Rezension liegen die fünf thematisch miteinander verwandten Aufsätze zugrunde, die im entsprechend bezeichneten Band der Zeitschrift "Historische Anthropologie" erschienen sind. Ein wenig führt der Titel "Botengänge" allerdings in die Irre. Wer erwartet, etwas über die Mühen der Fortbewegung zu Fuß zu erfahren, sieht sich enttäuscht. Der Untertitel hingegen gibt über das Thema genauere Auskunft: Es geht um "informelle" Weitergabe von Informationen vor allem durch Frauen, wozu die Aufsätze unterschiedliche Zugänge eröffnen.
Pernille Arenfeldt beschäftigt sich in ihrem Aufsatz mit der Erwerbung und der Weitergabe medizinischen Wissens durch die Kurfürstin Anna von Sachsen - in Briefen, Büchern, durch Leihverkehr und mündlichen Austausch. Dabei ist der Verfasserin wichtig, dass medizinisches Wissen geschlechtsspezifisch, aber über Standesgrenzen hinweg weitergegeben wurde.
In ganz andere Zusammenhänge führt der Aufsatz von Xenia von Tippelskirch über anonym veröffentlichte Texte der französischen Mystikerin Jeanne Marie Bouvier de La Motte-Guyon. Tippelskirch hebt dabei hervor, dass der Name der Autorin "Eingeweihten" trotz der anonymen Veröffentlichung bekannt war, Anonymität also nur bedingt Schutz vor Verfolgung bot. Die Anonymität der Texte ermöglichte aber ihre Weitergabe über Konfessionsgrenzen hinweg und könnte auch besonders neugierig gemacht haben. Als "informell" wird also hier der Verzicht auf den Autorennamen verstanden - was angesichts der zahlreichen anonymen und pseudonymen Veröffentlichungen gerade in der Frühen Neuzeit vielleicht zu hinterfragen wäre.
Zwei Aufsätze befassen sich mit den Möglichkeiten des Dienstpersonals an adligen Höfen, "politisch relevant [zu] handeln" (Sebastian Kühn, 58). Bei Stephanie Marra geht es um Gerüchte, Intrigen und Verdachtsmomente - an deren Produktion die Bediensteten beiderlei Geschlechts beteiligt waren - in Ehekonflikten des Hauses Bentheim-Tecklenburg zwischen 1670 und 1685; es ist ein besonders detail- und faktengesättigter Aufsatz. Sebastian Kühn behandelt einen politischen Skandal aus dem Jahre 1721, als dessen Anstifterin die Gouvernante der Kinder einer Gräfin von Schwerin galt. Hier wird mit mehr theoretischem Aufwand das dargelegt, was im modernen Verständnis Verquickung von öffentlicher und privater Sphäre an einem Hof genannt würde. In der höfischen Welt changiert(e) die Rolle der Dienst-"Boten": Sie waren einerseits reine Funktionsträger, die gleichsam marionettenhaft funktionieren sollten und andererseits Vertrauenspersonen mit entsprechenden Einwirkungsmöglichkeiten. Wie für die Höfe selbstverständlich, rückt in diesem Aufsatz mündliche Kommunikation in den Vordergrund.
"Gerede und Arbeit im Dorf" von Regina Schulte thematisiert anhand eines oberbayerischen Falles von Tötung eines Neugeborenen mögliche Funktionen von "Gerede" im Dorf. "Gerede" begründete einen Verdacht, wurde in Gerichtsprotokollen festgehalten, fand einen Kristallisationspunkt als Austausch unter Frauen am Brunnen oder Waschplatz, hat(te) aber auch ein Komplement im Schweigen/Verheimlichen, das ebenfalls gewissermaßen Fakten schaffen, in dem geschilderten Fall Verdacht ablenken konnte.
Von tatsächlichen "Gängen" und ihren möglichen Widrigkeiten ist in den fünf thematisch verwandten Aufsätzen dieses Zeitschriftenbandes kaum die Rede. Stattdessen erkennt man einen Fächer von Kommunikationsstrategien, die als "informell" gekennzeichnet werden, weil sie einem bestimmten Bild von "formeller" Kommunikation nicht entsprechen. "Formell" wäre demnach die Kommunikation durch Bücher und "offizielle" Schriften zwischen Männern, deren Namen identifizierbar sind, seien es Autoren-Klarnamen oder die Namen von Adressaten oder Lesern. Angesichts der Vielfalt frühneuzeitlicher Kommunikationsformen in einer "Öffentlichkeit", die sich vom "Privaten" nicht oder nur sehr selten abgrenzen lässt, wird es schnell klar, dass die nach solchem Verständnis "formelle" Kommunikation nur einen sehr geringen Teil aller Kommunikationsvorgänge ausgemacht haben kann. Insofern wäre zu wünschen, dass die Studien zu solcher "informellen" Kommunikation fortgesetzt werden, aber auch bewusst gehalten wird, dass "formelle" Kommunikation in dem oben skizzierten Verständnis gerade in der Frühen Neuzeit nicht das Selbstverständliche war.
Esther-Beate Körber