Michael Rohrschneider: Österreich und der Immerwährende Reichstag. Studien zur Klientelpolitik und Parteibildung 1745-1763 (= Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften; Bd. 89), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014, 395 S., ISBN 978-3-525-36079-8, EUR 69,99
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Dieses Buch kombiniert zwei neuere Forschungsansätze, nämlich die Erforschung informeller und Klientelbeziehungen einerseits und die Untersuchung von Reichstagsverfahren andererseits, um die Frage zu beantworten, auf welche Weise Habsburg den Reichstag als Bühne und Mittel seiner Politik zu nutzen suchte. Voraussetzung eines solchen Ansatzes ist die Annahme, die sich auch immer wieder bestätigt, dass "Österreich" keineswegs, wie die ältere Forschung gemeint hat, im 18. Jahrhundert "aus dem Reich hinauswuchs", sondern sowohl die kaiserliche Machtposition als auch die Stimme Österreichs im Fürstenrat des Reichstags zielgerichtet nutzte, um für die eigene Politik zu werben. In der Zeit, die das Buch behandelt, ergab sich aus diesem Bemühen eine ständige Konkurrenz mit Preußen, das seinerseits Anhänger zu werben oder zu halten suchte. Aus österreichischer Sicht galt Preußen als ständige Bedrohung, auch in Friedenszeiten. Es wurde als Macht angesehen, die die Reichsverfassung umstürzen wolle - was mit der reichspolitischen Négligence Friedrichs II. und mit seiner Obstruktionspolitik gegen Wien zusammenhing. Berührungspunkte mit der Kommunikationsgeschichte ergeben sich daraus, dass der Immerwährende Reichstag als Kommunikationsgeschehen verstanden wird, für das Verstehen und Missverständnisse konstitutiv waren.
Die zwei größten Kapitel des Buches entfalten die habsburgischen Möglichkeiten in unterschiedlicher Weise. Das erste Kapitel benennt "Voraussetzungen und Rahmenbedingungen der österreichischen Reichstagspolitik". Die sehr allgemein klingende Wendung ist kaum zu vermeiden, denn es geht um sehr unterschiedliche Grundbedingungen habsburgischer Politik am Reichstag: die kaiserliche Stellung und ihre Implikationen, die Konkurrenz zu Preußen, das nicht problemlose Zusammenwirken Franz Stephans und Maria Theresias sowie der ihnen unterstellten Hofbehörden, der Reichs- und der Staatskanzlei, was ihre Politik gegenüber dem Reichstag anging, und das Personal, das auf dem Reichstag selbst das Haus Habsburg-Lothringen in seinen verschiedenen Funktionen vertrat. Dazu kamen die kaiserlichen Prinzipal- und Konkommissare, die kurböhmischen und österreichischen Gesandten. Sie alle werden ausführlich auch biographisch vorgestellt. Ihr Zusammenwirken förderte den Erfolg der habsburgischen Politik entscheidend, blieb aber auch nicht ohne Reibungen und Konflikte, wie später im Einzelnen dargelegt wird (Preußen, das nur einen einzigen Gesandten am Reichstag unterhielt, blieben solche Reibungsverluste erspart.). Diese insgesamt ausführliche Darstellung der Grundbedingungen habsburgischer Reichstagspolitik umfasst auch immer wieder Rück- und Ausblicke in die bisherige Reichstagsforschung.
Der zweite große Abschnitt befasst sich mit den konkreten Methoden der "Klientelpolitik und Parteibildung", und zwar nicht nur den kaiserlichen, sondern auch den preußischen und denen etwa der kaiserlichen Prinzipalkommissare. Als wichtigen Hebel der kaiserlichen Klientelpolitik sieht Rohrschneider das Lehnsrecht sowie das kaiserliche Recht zur Pfründenverleihung an, er attestiert dem Kaiser eine patron-ähnliche Rolle sowohl im Verhältnis zu einzelnen Reichsständen als auch im Verhältnis zu Regensburger Gesandten, die beispielsweise an Staatskanzler Kaunitz Bitten um Protektion richteten. Preußen hatte seinen Klienten vor allem militärische Karrierechancen zu bieten. Für die Klientelbildung waren auch Gesandtschaften beider Mächte auf der Ebene der Reichskreise wichtig sowie die Besetzung der hohen Reichsgerichte, worum gelegentlich erbittert gekämpft wurde. Die konkurrierenden Klientelsysteme Habsburgs und Preußens auch außerhalb des Reichstags trugen zur Verfestigung der Machtblöcke bei. Auf dem Reichstag selbst hatten vor allem die Vertreter des Kaisers (Prinzipalkommissar und Konkommissar) sowie Österreichs und Böhmens (im Fürstenrat bzw. im Kurfürstenkollegium) Möglichkeiten, im Sinne Habsburgs zu wirken. Das galt besonders für den österreichischen Gesandten durch seine Stellung als Leiter der Sitzungen des Fürstenrates. Das konsensorientierte Verfahren des Reichstags begünstigte Taktiken der Verschleppung von Verhandlungen, etwa mit der Behauptung, man müsse erst Instruktionen des Dienstherrn einholen. Der kurmainzische Reichstagsgesandte Freiherr von Lincker blockierte die Diktatur preußischer Schriftsätze, so dass sie nicht als reichstags-öffentlich zur Kenntnis genommen galten. Selbstverständlich hing auch das Stimmverhalten der Reichsstände von ihrer oder ihrer Auftraggeber Klientelzugehörigkeit ab - besonders umworben, aber gelegentlich auch in Loyalitätskonflikten fanden sich Reichsstände, die traditionell mehrere Stimmen führten. Neben den Möglichkeiten, das Reichstagsverfahren zu eigenen Gunsten auszunutzen oder zu beeinflussen, gab es in Regensburg - oft auf Initiative des Prinzipalkommissars - zahlreiche informelle Möglichkeiten zu politischen Absprachen, etwa Feste, gemeinsame Mahlzeiten und Abendgesellschaften - österreichische und preußische Parteigänger trafen sich an unterschiedlichen Orten. Das Ausgeben von Schriftsätzen in den Häusern der Gesandten konnte sowohl als informelles Propagandamittel genutzt werden als auch im Rahmen eines Gabentausch-Systems, in dem die Information als Gabe gewährt und geschätzt wurde. Die Instruktionen der Gesandten enthielten oft ausdrückliche Anweisungen darüber, wem er welchen Sachverhalt oder welche Behauptung mitzuteilen habe - ganz abgesehen davon, dass die Beschaffung von Informationen zu ihren Dienstaufgaben gehörte und sie auch darauf aus sein mussten, die jeweiligen Instruktionen gegnerischer Parteigänger zu erfahren.
Viele Reichstagsgesandte waren auch als Publizisten tätig und warben auf diese Weise für die Standpunkte und Maßnahmen ihrer Dienstherren. Plotho verfügte über eine eigene Druckerei und Vertriebsstelle; die Hofburg hatte durch den Prinzipalkommissar Alexander von Thurn und Taxis im Postvertrieb ein Druckmittel in der Hand und sicherte antipreußischen Publizisten Schutz vor Verfolgung zu. Das Zeremoniell bildete ein eigenes Feld der Auseinandersetzung mit eigenen Regeln und eigenen Konflikten. Zum Beispiel führte das Bestreben des österreichischen Direktorialgesandten, den Kurfürsten gleichgestellt zu werden, zu Spannungen zwischen den habsburgloyalen Reichsständen. Kaiserliche zeremonielle Autoritätsdemonstrationen wiederum boten dem preußischen Gesandten von Plotho den Anlass, Habsburg ins Unrecht zu setzen und ihm das Streben nach absoluter Vorherrschaft vorzuwerfen. Obwohl der Kaiser auch protestantische Parteigänger hatte, wirkte die konfessionelle Spaltung des Reiches konfliktverschärfend. Österreich warf Preußen vor, zur protestantischen und damit antikaiserlichen Vormacht werden zu wollen, ließ sich aber dadurch nicht davon abhalten, auch die Beeinflussung des Stimmverhaltens im Corpus Evangelicorum zu versuchen. Die zahlreichen Mittel der Patronage und Begünstigung - die hier nicht alle aufgezählt, geschweige denn erläutert werden können - zeigen insgesamt, wie stark Politik nicht nur Sachauseinandersetzung war, sondern auch und gerade Leben in persönlichen Beziehungen (bis hin zum politisch bestimmten Heiratsverhalten) und Konkurrenz um Anerkennung, Ansehen, Ehre und persönliche Vorteile .
Die beiden als Kapitel IV und V bezeichneten Abschnitte sind wesentlich kürzer als die Großkapitel (ca. 30 und ca. 20 Seiten) und haben eher den Charakter von Anhängen, verdeutlichen aber noch einmal am Karriereweg jeweils eines Gesandten aus der österreichischen (Alexander von Thurn und Taxis, Prinzipalkommissar) und der preußischen Klientel (Karl Heinrich von Pfau, anhaltinischer Reichstagsgesandter) das Ineinandergreifen von großer Politik, Klientelbeziehungen und individueller Biographie. Die Einführung des Fürsten von Thurn und Taxis in den Reichsfürstenrat zeigt einen klaren Erfolg der kaiserlichen Klientelpolitik. Das Schicksal Pfaus ist vor allem deshalb politisch instruktiv, weil sein Stimmverhalten zu Beginn des Siebenjährigen Krieges preußischerseits als Ausscheren aus dem preußischen Klientelverband interpretiert wurde und Vergeltungsmaßnahmen bis hin zu militärischen Kontributionen hervorrief (291). Der Gesandte musste Regensburg verlassen und konnte erst Jahre später und auf mittelbare Protektion der Hofburg zurückkehren.
Michael Rohrschneider legt eine gründliche, quellengesättigte Untersuchung vor, die Reichstagspolitik sehr konkret vorführt.
Esther-Beate Körber