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Ulrich Herbert: Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München: C.H.Beck 2014, 1451 S., ISBN 978-3-406-66051-1, EUR 39,95
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Rezension von:
Sven Keller
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
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Sven Keller: Rezension von: Ulrich Herbert: Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München: C.H.Beck 2014, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 10 [15.10.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/10/25500.html


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Ulrich Herbert: Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert

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Rund 250 Seiten widmet Ulrich Herbert in seiner Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert den zwölf Jahren des 'Dritten Reiches'. Zusammen mit den Abschnitten zum Aufstieg der NSDAP und den ideologischen Grundlagen der völkischen Rechten in der Weimarer Republik funktionieren diese Kapitel nicht nur als Teil des Ganzen, sondern sie lassen sich gleichzeitig als knappe, in sich geschlossene Gesamtdarstellung des Nationalsozialismus lesen, die sich an ein breites Publikum wendet. Daran besteht trotz einiger Neuerscheinungen der letzten Jahre nach wie vor Bedarf: Richard Evans fordert den Leser seiner dreibändige Geschichte des 'Dritten Reiches' mit fast dreitausend Seiten heraus [1], andere Bände wenden sich vor allem an die Zielgruppe der Studierenden, so zuletzt Michael Wildt, der seine Darstellung am Analysekonzept der "Volksgemeinschaft" ausrichtet [2]. Dass neben Monographien nun auch zwei Sammelbände anhand von Beiträgen verschiedener Spezialisten einen Einstieg in die Geschichte und Erforschung des Nationalsozialismus bieten, ist nicht zuletzt Zeichen der zunehmenden Ausdifferenzierung des Forschungsfeldes [3]. Wenn jemand wie Ulrich Herbert, der der NS-Forschung in den letzten Jahrzehnten maßgebliche Impulse gegeben hat, nun eine Synthese vorlegt, darf man gespannt sein und einiges erwarten.

Die großen Linien auch für die NS-Kapitel geben die beiden übergeordneten Fragestellungen des Bandes vor. Bei der Betrachtung der "zwei Epochen" der "deutsche[n] Geschichte des 20. Jahrhunderts" und des Problems, "wie sich die erste und zweite Hälfte [...] historisch zueinander verhalten" (15), sieht Herbert den Beginn des systematischen Judenmordes im Sommer 1942 als symbolisches Scheidedatum, und das Jahr 1945 als deutliche Zäsur. Die zentrale Bedeutung der Kriegsjahre und des Holocaust für das Verständnis des Nationalsozialismus und seine Einordnung in das Kontinuum deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert spiegelt sich in der Gliederung des Textes. Von vier chronologisch angelegten, in sich thematisch untergliederten Kapiteln (Kap. 7 bis 10) befasst sich lediglich eines mit den Vorkriegsjahren, während die anderen drei die erste Kriegshälfte, die Zeit der Kriegswende um das Jahr 1942 und schließlich den Untergang des NS-Regimes umfassen. Herbert setzt damit erkennbar andere Schwerpunkte als frühere Gesamtdarstellungen des Nationalsozialismus, die Krieg und Holocaust eher als Epilog abhandelten [4].

Die Phase der Machteroberung und -konsolidierung deutet Herbert auf vergleichsweise wenig Raum als "Systemwechsel", der "alle Elemente einer Revolution" in sich getragen habe (305); das Funktionieren des NS-Herrschaftssystems fasst er knapp zusammen (320 f.). Den Begriff der "Polykratie" vermeidet Herbert ebenso wie die Erwähnung von Sonderverwaltungen und Kommissaren - dabei war gerade diese Konkurrenz nicht nur Grund für Reibungsverluste, sondern eine wichtige Quelle der Dynamik und der Stabilität des NS-Regimes. Hitlers "charismatische Herrschaft" erklärt er noch im Kapitel zur Zerstörung der Weimarer Republik als Faktor des Aufstiegs der NSDAP und ihres 'Führers' (283), es folgen kurz gehaltene Ausführungen zu seiner Stellung im NS-Staat (321 f.). Danach bleibt Hitler weitgehend im Hintergrund und tritt nur noch als erfolgreicher Expansionist hervor. Er bleibt vor allem Objekt einer "weiterhin bestehende[n] Führerbindung" (508) und des ramponierten, aber noch funktionierenden "Führer-Mythos" (532).

Überhaupt steht die Frage nach der neuen Staatlichkeit des 'Dritten Reichs' deutlich hinter der Darstellung der Expansions-, Verfolgungs- und Vernichtungspolitik zurück, die quer durch alle Kapitel die narrativen und analytischen Höhepunkte markiert. Herbert vermittelt die gesellschaftliche Dimension dieser Politik und das Zusammenspiel von "oben" und "unten". Vor allem aber zeigt er die Wechselwirkungen von Krieg und Dynamik der Gewalt auf, die er in den Mittelpunkt seiner Geschichtserzählung stellt. Herausragendes Beispiel ist die Darstellung der Genese der 'Endlösung der Judenfrage' und des Holocaust: Der "Gesamtprozess" des Judenmordes sei keinem 1923, 1933 oder selbst 1939 fertigen Masterplan entsprungen, sondern habe sich in "mehreren Phasen und Einzelschritten, in eskalierenden Aktionen und partiellen Rücknahmen" entfaltet. Er lasse sich nicht ohne die Berücksichtigung "militärischer, politischer und wirtschaftlicher" Faktoren verstehen, ebenso wenig aber auch ohne seine "ideologische[n] Elemente" (468). Denn die Gründe für den Holocaust lägen nicht in kriegsbedingten Notwendigkeiten, auch wenn deutsche Verantwortliche "das Vorgehen gegen die Juden [...] mit einer jeweils vordringlichen allgemeinen Problematik" verknüpften. Zu glauben, Wohnraumbeschaffung, Lebensmittelknappheit oder Seuchenbekämpfung seien tatsächliche Gründe für die Deportation und die Ermordung der Juden gewesen, sei "ein Trugschluss": Sie seien vielmehr Ausdruck eines spezifisch "nationalsozialistische[n] Antisemitismus", der Judenverfolgung und Judenmord mit verschiedensten Sachgründen verknüpfte, so gesellschaftlich anschlussfähig wurde und sich gewissermaßen selbst bekräftigte (473 f.).

Die zweite große Frage, die Herbert seiner Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert zugrunde legt, zielt gegenüber den Brüchen der Jahrhundertmitte auf die Kontinuitäten und soll die transnationale Perspektive öffnen: Als Epoche der Hochindustrialisierung und der Hochmoderne sei das 20. Jahrhundert eine Einheit, geprägt durch die ungeahnte Dynamik und Intensität der ökonomischen, politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen. Diese wiederum befeuerten, so Herbert, die Radikalität der politischen Ordnungsmodelle, die all dies integrieren und doch gleichzeitig so etwas wie Normalität wiederherstellen wollten. Daran lässt sich ablesen, wie Herbert den Erfolg des Nationalsozialismus erklärt, und gleichzeitig erschließt es seine Perspektive auf die gesellschaftlichen Veränderungen der deutschen Gesellschaft zwischen 1933 und 1945: Der Nationalsozialismus sei nicht die "Abkehr von der 'Moderne'", sondern der Versuch, eine "radikal andere Moderne" zu etablieren (301). Während einerseits die damit verbundenen rassistischen und biologistischen, dabei "spezifisch nationalsozialistische[n] Ziele" die Gesellschaft tiefgreifend veränderten, setzten sich andererseits grundlegende "Trends der industriellen Moderne" (368) - wie Massenkonsum und Elemente "westlicher" Massenkultur - fort. Dies vermittelte der Mehrheitsgesellschaft das Gefühl, "nach den extremen Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte nun doch zur 'Normalität' zurückgekehrt zu sein; eine Normalität ohne Linke [...], ohne Klassenkampf - und ohne Juden" (369). Diese subjektive, gefühlte und vorgespiegelte "Normalität" sei ein wichtiger Grund gewesen für die breite Zustimmung zum Regime. Die primäre Grundlage dafür sieht Herbert in der ökonomischen Entwicklung, im zeitgenössisch so genannten Wirtschaftswunder, das in Wahrheit ein Rüstungsboom war. Nichts habe "die Stabilität des Hitler-Regimes in den Vorkriegsjahren so gestärkt wie die Reduktion der Arbeitslosigkeit", und auch die "Popularität Hitlers war in erster Linie darauf zurückzuführen" (343, 345).

Trotz der zentralen Bedeutung für Herberts Argumentation und dieses deutlich formulierten Primats der Ökonomie bleiben industriegesellschaftliche Entwicklungen wie auch andere Aspekte der Hochmoderne randständig und werden kaum transnational eingeordnet. Zur Rolle der Frau beispielsweise kann man in den Kapiteln zur Weimarer Republik oder der Bundesrepublik lesen, während die Ausführungen im NS-Teil über den Arbeits- und Kriegseinsatz und dürre Zahlen hinaus nicht thematisiert wird. Auch erfährt der Leser wenig über die Durchdringung der deutschen Gesellschaft durch die NSDAP und ihre Organisationen oder deren Bedeutung als Disziplinierungs-, Partizipations- und Ermöglichungsstrukturen, obwohl diese als wichtiges Element jener spezifisch nationalsozialistischen "anderen Moderne" begriffen werden können. Überhaupt hätten die Integrations- und Mobilisierungskraft des Nationalsozialismus und seine gesellschaftlichen Dynamiken jenseits von Terror und Gewalt mehr Aufmerksamkeit verdient, auch wenn der Raum zwischen zwei Buchdeckeln begrenzt ist - und in diesem Fall auch ausgereizt.

In der Summe schreibt Herbert die deutsche Geschichte von 1933 bis 1945 über weite Strecken als angereicherte Politikgeschichte. Insgesamt überzeugt die interpretatorische Einbettung des Nationalsozialismus in das Kontinuum deutscher Geschichte des 20. Jahrhunderts. Die Ankündigung, die "exklusiv deutsche Signatur" (17) der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts "auch [als] eine europäische Geschichte" schreiben zu wollen, löst der Abschnitt zu den Jahren 1933 bis 1945 jedoch nicht ein. Die ausführliche Berücksichtigung von Expansions- und Besatzungspolitik bleibt Teil der nationalstaatlichen Perspektive, die Verweise auf transnationale Modernisierungsprozesse bleiben im NS-Teil eher blass - sie bilden eher einen Rahmen der Darstellung, als dass sie deren integraler Bestandteil würden. Herbert argumentiert gewohnt meinungsstark und bietet einen gut strukturierten, sprachlich klaren Text. Krieg und Gewalt als "ureigenste[s] Element" (394) oder "Wesenselement" (545) des Nationalsozialismus stellt er ins Zentrum seiner Geschichtserzählung, die sich auf der Höhe der Forschung bewegt. Diese inhaltliche, interpretatorisch begründete Schwerpunktsetzung vermag durchaus zu überzeugen, läuft jedoch Gefahr, andere Faktoren gesellschaftlicher Dynamisierung aus dem Blick zu verlieren.


Anmerkungen:

[1] Richard Evans: Das Dritte Reich. Bd. I: Aufstieg. Bd. II: Diktatur. Bd. III: Krieg, München 2004-2009.

[2] Michael Wildt: Geschichte des Nationalsozialismus (Grundkurs Neue Geschichte), Stuttgart 2008. Außerdem Klaus Hildebrand: Das Dritte Reich, 7. Aufl. München 2009 [Erstauflage 1979], das trotz der überarbeiteten Neuauflage seine ältere Grundkonzeption nicht verleugnen kann.

[3] Dietmar Süß / Winfried Süß (Hgg.): Das 'Dritte Reich'. Eine Einführung, München 2008. Jane Caplan (ed.): Nazi Germany, Oxford / New York 2008.

[4] Vgl. Martin Broszat: Der Staat Hitlers, 15. Aufl. München 2000 [Erstauflage 1969]; Hans-Ulrich Thamer: Verführung und Gewalt. Deutschland 1933-1945, Berlin 1986; Norbert Frei: Der Führerstaat. Nationalsozialistische Herrschaft 1933 bis 1945, 8. Auflage München 2007 [Erstauflage 1987].

Sven Keller