Michael Rohrschneider / Anuschka Tischer (Hgg.): Dynamik durch Gewalt? Der Dreißigjährige Krieg (1618-1648) als Faktor der Wandlungsprozesse des 17. Jahrhunderts (= Schriftenreihe zur Neueren Geschichte; Bd. 38), Münster: Aschendorff 2018, VIII + 342 S., 1 Tbl., 7 Farb-, 5 s/w-Abb., ISBN 978-3-402-14766-5, EUR 48,00
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Fabian Schulze: Die Reichskreise im Dreißigjährigen Krieg. Kriegsfinanzierung und Bündnispolitik im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2018
Stefan Ehrenpreis (Hg.): Der Dreißigjährige Krieg im Herzogtum Berg und in seinen Nachbarregionen, Neustadt a.d. Aisch: Verlagsdruckerei Schmidt 2002
Hanshelmut Käppel: Nürnberger Land in Not. Der Dreissigjährige Krieg, Treuchtlingen/Berlin: Keller 2005
Georg Schmidt: Die Reiter der Apokalypse. Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, München: C.H.Beck 2018
Robert von Friedeburg / Luise Schorn-Schütte (Hgg.): Politik und Religion: Eigenlogik oder Verzahnung? Europa im 16. Jahrhundert, München: Oldenbourg 2007
Josef J. Schmid (Hg.): Quellen zur Geschichte des Dreißigjährigen Krieges. Zwischen Prager Frieden und Westfälischem Frieden, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2008
Werner Buchholz (Hg.): Das Ende der Frühen Neuzeit im "Dritten Deutschland". Bayern, Hannover, Mecklenburg, Pommern, das Rheinland und Sachsen im Vergleich, München: Oldenbourg 2003
Jürgen Luh / Michael Kaiser / Michael Rohrschneider (Hgg.): Machtmensch - Familienmensch. Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg (1620-1688), Münster: Aschendorff 2020
Michael Rohrschneider (Bearb.): Die französischen Korrespondenzen 1647, Münster: Aschendorff 2004
Jürgen Frölich / Esther-Beate Körber / Michael Rohrschneider (Hgg.): Preußen und Preußentum vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Beiträge des Kolloquiums aus Anlaß des 65. Geburtstages von Ernst Opgenoorth am 12.2.2001, Berlin: Berlin Verlag Arno Spitz 2002
2018 ist historiografisch das Jahr des Dreißigjährigen Krieges. Der Beginn dieses langen Gemetzels vor vier Jahrhunderten scheint das interessierte Publikum stärker zu faszinieren als einige der Gegenwart näherliegende Jubiläen wie das Ende des Ersten Weltkrieges vor 100 oder die sogenannte Revolution von 1968 vor 50 Jahren. Dies überrascht, zumal mit der Lutherdekade ein bis zum Überdruss strapaziertes Gedenken an ein weit zurückliegendes Geschehen gerade erst zu Ende gegangen ist. Es wäre zwar sicherlich zu früh und vielleicht auch falsch, von einer Trendwende zur "Fernerinnerung" (Karl Heinz Bohrer) zu sprechen, doch möglicherweise begünstigen aktuelle Ungewissheiten kulturelle Selbstvergewisserungen, die über die bloße Vorgeschichte der Moderne hinausreichen.
Der hier zu besprechende Sammelband eröffnet die Neue Folge der verdienstvollen Schriftenreihe zur Neueren Geschichte mit einer Serie von Aufsätzen, die auf Vorträgen eines Würzburger Kolloquiums von 2016 basieren. Benannt werden sollten - so die Intention der Veranstalter und Herausgeber - die vom Dreißigjährigen Krieg ausgehenden positiven wie negativen Dynamiken. Die Frage, ob die frühneuzeitliche Bellizität Transformationen in Bereichen bewirkte, die sich ansonsten anders entwickelt hätten, bleibt freilich spekulativ, da die negative Probe aufs Exempel nicht möglich ist. Welche Veränderungen der Krieg direkt oder als Katalysator bewirkte, ist von der Frage nach den zugrunde gelegten Großerzählungen nicht zu trennen. Wer von einem Glaubens-, Konfessions-, Staatsbildungs- oder Hegemonialkrieg ausgeht oder nach sozioökonomischen, mentalem oder militärischem Wandel fragt, wird Veränderungen auf diesen Feldern finden. Der hermeneutische Zirkel lässt sich nicht überlisten. Auch unter der Prämisse, dass nur erkannt werden kann, wonach gesucht wurde, ist die Frage nach den vom Dreißigjährigen Krieg ausgehenden Dynamiken gleichwohl höchst willkommen, denn die so gewonnenen Einsichten und Erkenntnisse sind Bausteine für ein immer wieder neu zu entwerfendes Bild des Ganzen.
Anuschka Tischer bietet zunächst ein großes Panorama kriegsbedingter Wandlungsprozesse in der Frühen Neuzeit. Obwohl Kriege und Gewalt der europäische Normalzustand waren, wurden sie mit dem Ziel des Friedens geführt. Am Westfälischen Frieden lassen sich daher die Veränderungen durch den Krieg im Heiligen Römischen Reich ablesen (34). Deren Einordnung ist freilich nicht weniger umstritten als diejenige des großen Krieges. Christoph Kampmann zeigt, dass der Wandel im und durch den Krieg mit Blick auf die Religion, die Reichsverfassung, die europäische Politik oder die Kriegsunternehmer nicht allzu groß war. Niemand habe auf die "Totalvernichtung des konfessionellen Gegners" gezielt (52); der Kaiser habe 1629 den Religionsfrieden nicht abschaffen, mit seiner Ostseepolitik keine weitreichenden strategischen Weichenstellungen und mit dem Prager Frieden nur einen Ausgleich verbunden (59). Gekämpft wurde um Sicherheit. War das in früheren Kriegen anders?
Johannes Burkhardt reflektiert noch einmal seine befruchtenden Thesen vom Staatsbildungskrieg und vom Nebeneinander von Staaten. Er empfiehlt nun, den "Reichsföderalismus" als eine Variante des auf Souveränität beruhenden Westfälischen Systems zu begreifen (91). Dass der Begriff des Religionskrieges erst rückwirkend um 1700 zur "Negativerinnerung" an den Dreißigjährigen Krieg gebraucht wurde (117), zeigt Christian Mühling. Kerstin Weiand analysiert erhellend die Politikwechsel Hessen-Kassels mit dem Ansatz der Pfadabhängigkeit bzw. der "Windows of Opportunity" und kann so zeigen, wie der Krieg selbst zu politischen Transformationsprozessen führte. Fabian Schulze wiederum verankert den Leipziger Bund von 1631 als Teil der Reichskreisordnung. Die reichsrechtliche Legitimität sollte Sicherheit bieten, wurde aber vom Kaiser als Ungehorsam bewertet.
Die Gewalterfahrungen Christians II. von Anhalt-Bernburg zeigen - wie Arndt Schreiber mit langen Zitaten belegt - den zeitweisen Kontrollverlust eines Fürsten selbst in seiner eigenen Residenz. Michael Kaiser erläutert, wie die Generalstaaten und vor allem auch die Landstände in Kleve und Mark den abwesenden brandenburgischen Kurfürsten zum Wohl des Landes kompensierten (199). Für Bernhard von Weimar bot die Kriegsdynamik die Chance, die Enge des mit seinen älteren Brüdern zu teilenden Herzogtums hinter sich zu lassen. Er kämpfte - so seine Selbstsicht - für das Reich und gegen den Kaiser. Oxenstierna übergab ihm das Herzogtum Franken, im Elsass und am Oberrhein blieb er auf die Anlehnung an Frankreich angewiesen. Alle hochrangigen Heiratspläne, die ihn - wie Astrid Ackermann eindrucksvoll belegt - zu einer Figur des europäischen Machtgefüges gemacht hätten, kamen auch wegen seines frühen Todes nicht zustande. Seine unvollendete Karriere zeigt sehr schön die Grenzen kriegsbedingter Aufstiegsdynamik: Auch der erfolgreichste Condottiere benötigte den Rückhalt legitimer Herrscher; er war kein "Warlord".
Die Verbindung von Kriegsfinanzierung, Politik und Strategie illustriert gewohnt souverän und mit vielen nützlichen Details Peter H. Wilson. Er betont, wie wichtig das Fortbestehen einer regulären Administration für die Verteilung von Quartieren und Kontributionen war. Während die Fürsten flohen, sorgten die Amtleute im Zusammenspiel mit den Offizieren für Ordnung im Chaos (236 und 249). Das Reich und seine Glieder waren keine gescheiterten Staaten und der Krieg hatte nur einen geringen Einfluss auf die institutionelle Entwicklung (249). Für Wilson ist es die Schuldenspirale der politischen (und das Geld bzw. Gewinnstreben der ökonomischen) Elite, die den Krieg am Leben hielt.
Die Festungsbaukunst unterlag seit dem späten 16. Jahrhundert strengen geometrischen Prinzipien und daran änderte sich während des Krieges wenig. Stefan Bürger veranschaulicht mithilfe vieler Skizzen die damals modernen Anlagen, die sich aber nur wenige leisten konnten. Eva-Bettina Krems fragt nach Gründen für den Wandel der Repräsentationskultur um 1700. Sie macht für das nach französischem Vorbild geänderte Zeremoniell und die prächtigen Residenzbauten die 1648 erreichte "größere Souveränität" (280) der Reichsstände und ihre Teilhabe an der "internationalen Politik" (281) verantwortlich. Dies mag für die Kurfürsten um 1700 gelten, doch warum bauten auch Fürsten wie der Herzog von Gotha (Friedenstein) oder die Grafen von Schwarzburg (Heidecksburg) schon während des Krieges riesige Schlösser? Wollten sie ihre Standesgenossen oder die Untertanen beeindrucken?
Der deutschen Nationsbildung im und durch den Krieg widmet Arina Lasarewa eine lesenswerte Studie. Sie geht überzeugend davon aus, dass vor allem die Dichter durch ihre Wahrnehmung der Fremden das nationale Bewusstsein in Deutschland für die eigene Sprache sowie für die überlieferten Werte und Tugenden geschärft haben. Abschließend beschäftigt sich Arno Strohmeyer noch mit den Berichten des kaiserlichen Residenten in Konstantinopel, die erstaunliche Kenntnisse über diesen Krieg spiegeln. Sie lassen seines Erachtens nicht nur den Schluss zu, dass das Osmanische Reich enger mit Europa verbunden war als angenommen, sondern dass dieser Krieg auch eine asiatische Dimension besaß.
Die Studien greifen die Großerzählungen auf, spiegeln die erfreulich differenzierte Forschungslage wider, ergeben jedoch kein neues Bild. Die Dynamik durch Gewalt mag durch "linear-telelogische Interpretationen" (9) nicht adäquat beschreibbar sein, ohne solche Deutungsmuster bleibt es aber bei einer kaleidoskopartigen Fülle von Einzelbeobachtungen und schwer zu verallgemeinernden Erkenntnissen. Das "Nebeneinander von Kontinuität und Wandel, Erfahrungen von Kontingenzen sowie die Offenheit von Entscheidungssituationen" (9) ist nicht an sich, sondern nur vor dem Hintergrund bestimmter Leitvorstellungen, theoretischer Perspektiven oder Analogien definierbar. Nach der Lektüre dieses Bandes setzte der Dreißigjährige Krieg wenig Dynamik frei; die Veränderungen brachte der Frieden. Die Frage jedoch, warum die Menschen (Diplomaten) nach so vielen Kriegsjahren einen Kompromissfrieden schlossen, könnte vielleicht doch etwas mit der Dynamik der Gewalt und der europäischen Großerzählung von einem Leben mit der biblischen Ordnung unter der ständigen Drohung des nahen Endes zur irdischen Selbstverantwortung zu tun haben.
Georg Schmidt