Stefan Ragaz: Religija. Konturen russischer Religionskonzepte im Orientdiskurs des 19. Jahrhunderts (= Diskurs Religion. Beiträge zur Religionsgeschichte und religiösen Zeitgeschichte; Bd. 16), Würzburg: Ergon 2021, 344 S., ISBN 978-3-95650-783-0, EUR 74,00
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Christoph Augustynowicz / Agnieszka Pufelska (Hgg.): Konstruierte (Fremd-?)Bilder. Das östliche Europa im Diskurs des 18. Jahrhunderts, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2017
Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Fremden gehörte seit dem 18. Jahrhundert zu den wesentlichsten Erfahrungen des Zarenreiches, das im Zeitalter der Aufklärung damit begann, sich selbst zu beschreiben und der eigenen Vielfalt gewahr zu werden. Die hier zu besprechende Studie, - die mit dem Fakultätspreis 2021 der Theologischen Fakultät der Universität Basel ausgezeichnete Dissertation des Religionswissenschaftlers Stefan Ragaz - befasst sich mit der Herausbildung der Beschreibungssprache, welche im Verlauf des 19. Jahrhunderts zur Sprache des "russischen Orientalismus" werden sollte. Ragaz versteht seine Studie als religionswissenschaftliche Untersuchung, will diese aber auch als einen Beitrag zur Neuen Imperiengeschichte verstanden wissen. Den Zugang zum Thema sucht er über die religionswissenschaftliche Diskursanalyse. Religionsbezogene Aspekte der Konstruktion des russischen Orientalismus stellen in der Tat ein peripheres Thema der russlandbezogenen Imperienforschung dar. Das Ziel der Studie ist es, die systematische Thematisierung von Religion im Medium des russischen Orientdiskurses zu gewährleisten: Wie beschrieb man fremde, "orientalische" Glaubensrichtungen in der Zeit, als das universelle Konzept "Religion" noch nicht etabliert war und wie lassen sich über die Beschreibungen dieser fremden Religionen die russischen Religionskonzepte sichtbar machen, - so lassen sich die zentralen Fragen dieser Studie zusammenfassen.
In fünf Kapiteln (Kap. 4 bis 8) behandelt Ragaz dieses Thema an Beispielen der Beschreibungen von Islam, Schiismus, Zoroastrismus, Buddhismus, und Schamanismus. Eingerahmt wird der empirisch-analytische Teil von theoretischen Kapiteln (Kap. 2, 3 und 9): Hier fährt Ragaz schwere Geschütze auf: Diskurs von Foucault, Semiosphäre von Lotman, Enzyklopädiebegriff von Eco, Rhizom von Deleuze und Guattari und so fort. Gewiss können Theorien einen analytischen Ansatz liefern, um beispielsweise mit Hilfe des Semiosphäremodells den Blick auf Rezeptionsvorgänge zu erweitern oder Orient als einen semiotischen Text zu fassen, die Anhäufung von allerlei Theorien in einer Studie kann aber schnell konzeptlos und gekünstelt wirken. Es gibt zwar tatsächlich Vorschläge, die kultursemiotischen und diskursanalytischen Theorieansätze zusammenzuführen, aber es stellt sich die Frage, ob es weiterführend ist, Diskurs als (Sub-)Semiosphäre zu bezeichnen? Wäre es im Rahmen der vorliegenden Studie nicht lohnender gewesen, Semiosphäre mit Polascheggs Überlegungen zu verbinden? Da scheinen mir sinnvollere und empirisch leichter überprüfbare Anknüpfungsmöglichkeiten gegeben.
Die Hauptquelle der Untersuchung ist das in den Jahren 1835 bis 1841 in 17 Bänden erschiene aber nicht abgeschlossene Ėnciklopedičeskij leksikon. Es liefert das narrative Grundgerüst der Studie, dient aber auch als Leitfaden für die weitere Quellenauswahl. Aus den ausgewählten Texten ergibt sich der Fokus der Studie, der sich zwar "nur" auf Rezeptionsvorgänge konzentriert, diese aber breit fasst, und zwar von der Rezeption der westeuropäischen "orientalischen" Texte bis zu den realen Kulturkontakten. Besonders im zweiten Fall tritt der Orient als ein Medium und als ein Träger von Informationen hervor. Der Kulturkontakt kann als eine direkte Begegnung ablaufen, wie am Beispiel des Schriftstellers der russischen Romantik Bestužev-Marlinskij demonstriert, oder auch als eine Beobachtung aus der wissenschaftlichen Distanz, wie dies bei Berezin der Fall war. In der zweiten, als Monolog gefassten Begegnungsart, tendiert der Autor eher zu einer eurozentrischen Sichtweise auf das orientalisch Fremde.
Senkovsij beschäftigt sich nicht mit dem Islam als Religion, sondern mit dem islamischen Orient. Dabei sucht er nach (musik-)ästhetischen Zugängen, wie dem Modell des Hexameters, verbindet auf der anderen Seite physische Geographie und Kultur. In seiner Klassifizierung der Sprachen geht er von Klima und Rasse aus, die für ihn entscheidende Faktoren für die Herausbildung von Sprachfamilien waren. Dass in diesem Ansatz die Sprachlogik in die Rassenfrage mündet, ist evident. Die Verbindung von Geographie, Kultur und Sprache bringt in diesem Modell ein bestimmtes philosophisch-literarisches Denken hervor. So stehen der gesamteuropäischen Einheit des Denkens die asiatische Dreieinheit - drei voneinander unabhängige Philosophiesysteme des Orients - gegenüber.
Bei der Beschreibung des schiitischen Islams spielen historische Ereignisse eine zentrale Rolle. Dementsprechend ist die begriffliche Besetzung dieser Beschreibung: Die Entwicklung der Schia wird als ein Wechselspiel zwischen Religion und Politik im Kampf um die Nachfolge Mohammeds dargestellt. Die Schia tritt dabei als eine Art Devianz gegenüber dem Hauptstrang des Islams auf. So tauchen in der Beschreibung historische Begriffe aus der russischen Geschichte auf: raskol (Spaltung) und Schisma. Der Schwerpunkt der Darstellungen auf Assassinen und die Betonung der "islamischen Schisma" sind wohl auf die Rezeption von westeuropäischen Texten zurückzuführen. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Darstellung von schiitischen Passionsspielen, die mit dem Vokabular des europäischen/russischen Theaters beschrieben werden, aber auch die Rolle der unmittelbaren Begegnung und Beobachtung deutlich machen, hier in Form einer performativen Erfahrung. Eine Konsequenz der Beschreibung der Schia als Devianz war die explizite Verbindung von Religion und Politik, die die Vorstellung von der Sektologie des Islam und die Betonung von innerislamischen Antagonismen begünstigte, die wiederum unter dem historischen Sammelbegriff politiko-religioznye raskoly (politisch-religiöse Spaltungen) zusammengefasst wurde. Gleichzeitig schrieben die Autoren dem Islam eine positive Rolle in der Verbreitung des Monotheismus zu.
War die Idee des Monotheismus der gemeinsame Nenner, auf dessen Grundlage sich die russischen Autoren mit dem Islam verständigen konnten, so gestaltete sich die Beschreibung von Naturreligionen schwieriger. Hier war die Erfahrung des Scheiterns von Kulturkontakten wahrscheinlicher. In Beschreibungen des Zoroastrismus verließen sich Savel'ev und Berezin auf die Berichte westeuropäischer Reisenden aus vorgängigen Epochen. Auch hier lässt sich ein Prozess der Abstrahierung beobachten. Die Figur Zoroasters tritt hinter die Lektüre der zoroastrischen Schriften wie die Zend-Avesta zurück. Es geht nun um eine quellengestützte Beschäftigung mit der Lehre des Zoroastrismus.
Auch in den Auseinandersetzungen mit Buddhismus und Schamanismus findet Ragaz ähnliche Abstraktionsdynamiken. Vom Sammelbegriff Heidentum, der dazu diente, die religiöse Vielfalt Asiens zu fassen, bewegt man sich zum Begriff Religion Buddhismus. Im russischen Kontext war dies der Neologismus buddizm, der den Begriff dalaj-lamskaja vera ablöste.
In der Beschäftigung mit dem Schamanismus, der in Naturreligionen Sibiriens verbreitet war, kam es auf eine unmittelbare Begegnung an, doch auch hier findet in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Verwissenschaftlichung der Beschreibung statt. Dorži Banzarov unternahm den ersten Versuch, den Schamanismus durch philologische Analyse eines Religionssystems zu erklären.
Die Figur Banzarovs erscheint mir als die markanteste in der gesamten Studie. Er ist ein Vertreter der indigenen Völker Sibiriens und des Fernen Ostens, die in der Frühen Neuzeit unter die Zarenherrschaft gelangten und zu den Leidtragenden der russischen Macht- und Kolonialpolitik geworden sind. Er stellt ein Sonderbeispiel eines imperialen Akteurs dar, der sich durch seine Forschungstätigkeit die universelle beschreibende Sprache des Imperiums zu eigen machte und an der Konstituierung der imperial-kolonialen Wissensordnung des Zarenreiches beteiligte.
Sieht man von theoretischen Redundanzen und Unzulänglichkeiten im Sprach- und Schreibstil ab, die die Lektüre sehr mühsam machen, so bietet die Studie dennoch mehrere Anknüpfungspunkte für die Neue Imperienforschung an: die Funktion der Religion als ein Instrument und Mittel der imperialen Herrschaft und Machtausübung soll gerade im Bezug auf ein Vielvölkerreich wie Russland eingehender erforscht werden.
Alexander Bauer