Kerstin S. Jobst: Geschichte der Krim. Iphigenie und Putin auf Tauris, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2020, VII+384 S., ISBN 978-3-11-051808-5, EUR 41,95
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Das hier zu besprechende Buch ist innerhalb kürzester Zeit zu einem Standardwerk geworden: Zu Recht, denn ein solches fundiertes Überblickswerk zur Geschichte der Krim, die ein mehrfach beanspruchter Erinnerungsort ist, fehlte. Kerstin Jobst zeigt in 37 übersichtlichen Kapiteln nicht nur chronologische Linien von Vorgeschichte und Antike bis in unsere unmittelbare Gegenwart der Annexion der Krim durch Putins Russland. Sie gibt auch immer wieder Einblicke in Interpretationen und umkämpfte Erinnerungen. Jobst verdeutlicht nicht nur, was die Krim im Umfeld des Jahres 2014 für die offiziellen Narrative Russlands und der Ukraine bedeuten sollte, sondern auch, welche Bedeutung Krimtataren, Osmanen, Genueser und Venezianer im Verlaufe der Geschichte hatten. Erst 1783 annektierte Grigorij Potemkin für Katharina II. die Krim, der in dieser Zeit keinesfalls eine Bedeutung vor allem als möglicher Taufort für Vladimir den Heiligen zukam, wie es Putin im Jahre 2014 ausstellte, sondern die Katharina als antikes Taurien faszinierte und auf der sie sich beim Einzug in den Palast der Krimkhane in Bağçasaray inszenierte. Im 19. Jahrhundert avancierte die Krim, immer eine Drehscheibe des Handels, zur geopolitisch bedeutsamen "Perle" des Russischen Imperiums - über diese Zeit hat Jobst bereits eine lesenswerte Monographie vorgelegt. [1]
Bis zum 10. Jahrhundert wies die Krim bereits eine bewegte Siedlungsgeschichte auf, in der die Slawen keine Rolle spielen: Griechische Kolonisten, die die Krim als ein "Barbaricum" ansahen, Sarmaten und andere waren für die Geschichte der Halbinsel im Schwarzen Meer wichtig. Auf die Erzählung der sogenannten "Nestorchronik", laut der sich Vladimir, (Groß)Fürst der Kiever Rus, 988 in Chersones taufen ließ und dann Anna, die Schwester des Kaisers von Konstantinopel heiratete, rekurrierten die nationalen Historiographien Russlands und der Ukraine beide und bieten damit Beispiele von Geschichtspolitik im Rahmen eines forcierten Nationbuildings, die mit der Geschichte des Krim an sich nur wenig zu tun haben. Die Krim wurde im Mittelalter ein wichtiger Schauplatz der Rivalität Venedigs und Genuas und Drehscheibe des Sklavenhandels aus ostslawisch besiedelten Gebieten über das Schwarze Meer ins Mittelmeer hinein - bis nach Ägypten ins Mamlukenreich. Um die Mitte des 15 Jahrhunderts entstand auf der Krim die dauerhafteste Herrschaftsbildung in der Nachfolge der zerfallenden Goldenen Horde - das Krimkhanat mit dem dschingisidischen Clan der Girey, der die Khane bis zur Annexion der Krim 1783 stellte und den Sultan in Konstantinopel als Suzerän anerkannte. Jobst zeichnet anschaulich und fundiert nach, wie das Krimkhanat im handels- und geopolitischen Gefüge zwischen dem Sultan, den dominierenden Genuesern in Caffa und zumeist gegen die Orthodoxen Kosaken zu einem bedeutenden Player wurde, der in der russischen und sowjetischen Geschichtsschreibung fast unisono "kleingeschrieben" wurde. Moskau, vor dessen Toren, die Krimtataren noch 1572 standen, war noch bis weit ins 17. Jahrhundert hinein ein peripherer Akteur.
Dies sollte sich mit den Feldzügen Peters I. gegen Azov ändern: In den Kriegen gegen das Osmanische Reich versuchte das Russische Imperium nach Süden vorzudringen, die Steppengebiete botmäßig zu machen, Küstenstreifen am Schwarzen Meer zu erobern und nach der Krim zu greifen. Zum eigenen Mythos geworden ist das kontrovers bewertete "Griechische Projekt" Katharinas der Großen, die Russland als orthodoxe Schutzmacht in einem wiedereroberten Konstantinopel installieren wollte. Sekundiert wurde ihr in der europäischen Öffentlichkeit, etwa von Voltaire. Realpolitisch ließ sie zwischen zwei Kriegen gegen das Osmanische Reich 1783 die Krim annektieren und ordnete an, dass die Städte nicht russische, sondern griechische Bezeichnungen erhielten (Sevastopol, Simferopol). Die nun einsetzende Kolonisation mit Griechen, vor allem aber ethnischen Russen und die beginnende Marginalisierung der Krimtataren sind ebenso wesentlich für eine diskursive Aneignung der Krim durch Russland als auch der geschichtspolitisch bis in die Gegenwart bedeutsame Krimkrieg (1853-1856), als sich das Zarenreich in einem weiteren Waffengang gegen das Osmanische Reich unversehens einer britisch-französisch-türkischen Koalition gegenübersah. Die blamable Niederlage Russlands führte nicht nur zum Verlust der Vormachtstellung in Europa, sondern auch zur Zerstörung Sevastopols. Als Folge verließen etwa 200.000 Krimtataren die Halbinsel in Richtung Osmanisches Reich, weil sie der Kollaboration mit dem Feind bezichtigt wurden.
Nach den Revolutionen des Jahres 1917 wurde die Krim im Bürgerkrieg zeitweise zum Zentrum der "Weißen Bewegung". Die Bolschewiki sollten schließlich alle bekämpfen, die sich ihnen in den Weg stellten, so den Vordenker der krimtatarischen Nationalbewegung Noman Çelebicihan (1885-1918). Schließlich wurde die Krim im Rahmen einer autonomen Teilrepublik innerhalb der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) organisiert. Im Herbst 1941 marschierten im Zuge des Unternehmens Barbarossa deutsche und rumänische Truppen auf der Krim ein, die als "Gotengau" im Rassenwahn der Nationalsozialisten eine Rolle spielte. Die Ermordung der lokalen jüdischen Bevölkerung stießen aber bald auf Kategorisierungsprobleme, die für die ethnischen Verhältnisse auf der Krim kennzeichneten, wie die Verfasserin herausarbeitet: Hatten die tatarisierten Krimtschaken und Karäer als Juden zu gelten oder nicht? Als die Deutschen im April 1944 die verheerte Krim verließen, begann für hunderttausende von Krimtataren eine Deportation, die die sowjetische Führung mit der Bezichtigung der Kollaboration begründete. Praktisch die gesamte krimtatarische Bevölkerung wurde nach Zentralasien und Sibirien deportiert. Damit wurde die Krim vor allem eine russisch bewohnte Halbinsel. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Krim zunächst von einer autonomen Teilrepublik zu einem Verwaltungsbezirk der RSFSR, 1954 erfolgte dann der Wechsel der Krim zur ukrainischen Sowjetrepublik. Das "Geschenk" Nikita Chruščevs an die Sowjetrepublik Ukraine ist seitdem Gegenstand geschichtspolitischer Kontroversen, die Vladimir Putin nach der völkerrechtswidrigen Annexion 2014 immer wieder genutzt hat.
Synthesen, wie das hier zu besprechende Buch, sind nicht einfach zu konzipieren und zu schreiben. Kerstin Jobst zeigt, wie es gehen kann: Im Gegensatz zu russischsprachigen, teils mehrbändigen Darstellungen, kombiniert sie Kompaktheit, gelungen Narration und Wissenschaftlichkeit. In den Anmerkungen werden sinnvollerweise in der nötigen Kürze Kontroversen diskutiert. Es wird sowohl auf wichtige Referenzwerke als auch auf Spezialliteratur verwiesen. Schon der Umgang mit Transliteration verweist auf einen kenntnisreichen Umgang mit der Forschung und den jeweiligen Narrativen der Historiographie. Der Einstieg mit Krim-Mythen, die jeweils zu unterschiedlichen Beanspruchungen und Narrativen führten, nimmt die Leser:innen mit. Kerstin Jobsts Buch ist jedem und jeder, der sich für die Geschichte der Krim bis in die Gegenwart interessiert, nachdrücklich zu empfehlen!
Anmerkung:
[1] Kerstin S. Jobst: Die Perle des Imperiums. Der russische Krim-Diskurs im Zarenreich (=Historische Kulturwissenschaft; Bd. 11), UVK, Konstanz 2007.
Jan Kusber